14. Brief
Liebste Lilly,
ich muss dir sagen, dass ich nicht mehr kann. Wie lange habe ich dich schon nicht mehr gesehen? Sind es Tage, Wochen, Monate, Jahre? Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren. In meinem Kummer ertrinke ich fast. Er schnürt mir meine Kehle zu, nimmt mir meine Kraft, lässt mich nicht in Ruh. Ich sehe keinen Grund mehr, weiter zu leben. Nur eines möchte ich: Bei dir sein! Bei dem Menschen, den ich so abgöttisch liebe. Doch die Entfernung ist zu groß zwischen uns. Wir haben uns auseinandergelebt. Du lebst in deiner, ich in meiner Welt. Es ist nicht mehr auszuhalten. Warum habe ich nichts dagegen unternommen? Warum? Warum? Warum?
Die Tage waren meist gleich. Du musstest von nun an jeden Tag zur Übung, ich wartete die gesamte Zeit auf dich. Meist draußen in Berlin. Abends fielen wir uns dann vor lauter Sehnsucht in die Arme. Erinnerst du dich noch daran, als du völlig erschöpft ins Zimmer kamst, ich aus dem Bad, voller Seife, da ich meinen Waschlappen vergessen hatte und du mich umarmt hast? Du rutschtest regelrecht an mir ab. Und dann gingen wir gemeinsam duschen. Ein unvergessliches Ergebnis. Deine Küsse brennen noch heute auf meinem Körper...
Und dann war er da: Der Abend vor deinem ersten Einsatztag.
Wir saßen nebeneinander am offenen Fenster, redeten und plötzlich rannen dir Tränen über das Gesicht. Ich wusste nicht, was du hattest. Nur Sekunden zuvor hatten wir noch gelacht. Und nun saßt du neben mir, vollkommen aufgelöst. Dein leises Schluchzen wurde lauter. Tröstend nahm ich dich in den Arm, küsste vorsichtig deine Stirn.
Einen weinenden Engel zu sehen ist nicht schön. Man glaubt, die Welt gehe unter. Einen weinenden Engel gibt es einfach nicht!
Ich ließ dir Zeit, um dich wieder beruhigen zu können. Dann erzähltest du mir unter schluchzen, dass du vor dem Einsatz wahnsinnige Angst hattest. Du liebtest deinen Job, doch du wusstest, dass es sehr gefährlich werden könnte.
„Ich will dich nicht verlieren!“, schluchztest du und sahst mich mit Tränen in den Augen an. „Ich will nicht, dass es JETZT endet! Nicht jetzt, verstehst du?“
Mir blieben die Worte im Halse stecken. Auch ich war nun den Tränen nahe. Auch ich hatte Angst um dich. Statt etwas zu sagen, drückte ich dich einfach nur an mich.
Lilly, ich dachte, ich sterbe. Du hattest Angst und ich konnte nichts weiter tun, als dich in den Arm zu nehmen. Ich war so machtlos. Konnte nichts tun...
Ich fand meine Stimme wieder, nahm deinen Kopf in die Hände und sah dich an. Kopfschüttelnd versicherte ich dir: „Lilly, es wird dir nichts passieren. Glaube mir! Du bist nicht allein morgen! Ich bin in Gedanken immer bei dir und werde dich beschützen! Lilly, du wirst es schaffen!“
„Wenn wir zurück fahren,“, flüstertest du, „dann gebe ich meinen Job auf!“
Ich konnte dich verstehen. Wenn du diesen Einsatz hinter dir hattest, kommt schon bald der nächste, umso gefährlichere. Du konntest es nicht aushalten, mit der Angst zu leben. Und ich weiß, was Angst ist. Mein Engel, ich habe genug Angst erlebt, um in dich hineinsehen zu können und zu wissen, was in dir vorgeht. Du kannst an nichts anderes mehr denken als an diese Angst!
Wir legten uns ins Bett, schliefen Arm im Arm ein.
Nur wenige Stunden später standen wir vor dem Hotel. In deiner Uniform wirktest du älter, reifer und klüger. Aber vor allem noch schöner, als du es ohnehin schon bist, mein Engelchen.
Stumm standen wir voreinander. Dein Blick verschmolz mit meinem. Schweigend nahm ich dich in den Arm, küsste dich ein letztes Mal vor deinem Einsatz. Deine Lippen schmeckten salzig. Überrascht schaute ich dich an und erkannte, dass du leise weintest. Doch du sagtest ebenso nichts wie ich. Ein letzter Blick voller Liebe und du drehtest dich um und gingst die Straße herunter. Dein Zopf schlenkerte wie immer hin und her, deine Schritte waren selbstbewusst und doch wusste ich, du gingst mit der Angst. Ich konnte von hinten sehen, wie du mit der Hand deine Tränen trocknetest. Dann warst du verschwunden...
Ich hätte hinter dir hergehen müssen. Ich musste dich doch schützen. Du warst doch mein Engel, der ohne mich nicht leben konnte. Ich konnte dich doch nicht alleine gehen lassen! Ich – blieb stehen...
Lange, lange Zeit stand ich wie angewurzelt vor dem Hotel und blickte in die Richtung, in die du gegangen warst. Mein Herz schrie wieder nach dir. Es wollte hinter dir her, mein Verstand wehrte sich. Und er gewann. Es war dein Job, du wusstest, was du in gefährlichen Situationen tun musstest. Ich hingegen verzog mich in mein Schneckenhaus, lief traurig durch die Stadt und dachte an dich. Versuchte, dich durch meine Gedanken zu stärken. Du hattest nur unnötig Angst, dass wusste ich...
Am Abend saß ich in einem kleinen Lokal, in dem ein alter Fernseher hinter der Theke stand. Es lief irgendein privater Sender, was ich nicht weiter beachtete. Ich saß am Tresen und hielt die kleine Schmuckschatulle in der Hand. Bald, dachte ich, bald solltest du ihn zu Gesicht bekommen. Nur noch sechs Tage, dann wäre der letzte Tag gekommen. Ich hätte dich wieder für mich und du hättest deinen Einsatz hinter dir.
Plötzlich wurde die Eingangstür des Lokals aufgestoßen, ein Mann kam hereingerannt. Er keuchte und war vollkommen außer Puste, daher nahm ich an, er war gerannt. Ohne mich und die anderen Gäste zu beachten, stürmte er auf den Tresen zu und sagte dem Barkeeper dahinter unter lautem Schnaufen: „Schnell, Benno, schalt mal schnell auf regional um! Krawallen bei dem Treffen der Politiker! Komme da gerade her! Ist ziemlich heftig!“
Krawallen? Ziemlich heftig? Was war passiert? Mit zitternden Händen steckte ich die Schatulle in meine Jackentasche und starrte auf den Bildschirm, auf dem ein Reporter zu sehen war, hinter dem in einiger Entfernung Steine werfende Demonstranten und Polizisten gegeneinander kämpften. Schüsse waren zu hören, Schreie und noch mal Schüsse. Einige Demonstranten fielen zu Boden, wurden von Einsatzkräften der Polizei festgenommen.
Mein Herz setzte aus. Ich konnte nicht mehr Atmen. Ein schweres Gewicht drückte auf meinen Brustkorb ein. Du warst irgendwo dazwischen. Lilly, ich hatte eine unbeschreibliche Angst um dich. Was war mit dir? Warst du an vorderster Front? Oder warst du in Sicherheit?
Die Gedanken überschlugen sich. Tränen der Angst stiegen in meinen Augen hinauf. Um mich herum scharten sich die Gäste des Lokals und starrten genauso ungläubig auf den Fernseher wie ich.
„Die Demonstranten gehen sehr gewalttätig gegen die Polizisten vor. Sie werfen Steine, es wird sogar davon gesprochen, dass sie Molotowcocktails einsetzen. Die Polizisten setzen Wasserwerfer gegen die aufgebrachten Demonstranten ein. Inzwischen gibt es viele Verletzte auf beiden Seiten. Ein Sprecher der Polizei sagt, es gebe schon an die hundert Festnahmen.“, so schilderte der Reporter das Geschehen hinter sich.
Steine, Molotowcocktails, Wasserwerfer... Bisher waren diese Dinge weit weg für mich. Dinge, von denen man nur aus den Medien hörte. Dinge, die mich nichts angingen. Aber mit einem Schlag änderte sich das! Du stecktest mit der größten Wahrscheinlichkeit irgendwo mitten drin! Umringt von Kollegen oder Demonstranten, die zu allem bereit zu sein schienen. Mein kleiner Engel, hilflos zwischen den Fronten. Was sollte ich nur tun?
Eine große Übelkeit stieg in mir auf. Ich versuchte sie zu unterdrücken. Mein Blick verharrte noch immer auf dem Bildschirm, wo nun ein großer Wasserwerfer im Einsatz erschien. Schnitt auf einen am Boden sitzenden Polizisten, der sich eine große und stark blutende Wunde am Kopf verarzten ließ. Ging es dir gut?
Wie in Trance verließ ich das Lokal. Als ich auf der Straße war, klingelte plötzlich mein Handy. Teilnahmslos und mit den schlimmsten Gedanken um dich ging ich ran. Zunächst hörte ich nur laute Geräusche im Hintergrund. Und dann –
„Sebastian! Ich bin’s!“
Lilly! Du warst es! Du riefst an! Du warst in Sicherheit!
„Lilly!“, rief ich erleichtert und dennoch aufgeregt. Warum riefst du an? „Was – was ist los?“
Ich hatte Mühe dich bei den Hintergeräuschen zu verstehen: „Hier sind gewaltige Auseinandersetzungen. Du hast es sicher mitbekommen! Mir geht es gut! Ich komme gleich ins Hotel, da ich mir meinen Knöchel verletzt habe! Mach dir keine Sorgen! Sebastian...“
Deine Stimme wurde plötzlich ganz anders, so weich und ängstlich. Was war los?
„Lilly, was ist?“
Ich konnte durch das Telefon spüren, dass du aufgeregt warst. Und dann sagtest du: „Ich liebe dich!“
Lilly, mit diesem Satz hast du mein Leben erneut verändert. Das, was ich seit langem mit mir herumtrug, sprachst du aus! Der Satz, den ich nie zu dir gesagt habe. Drei Wörter, die die größte Bedeutung trugen. Drei einfache kleine Wörter, die dennoch so schwer auszusprechen waren, wie eine fremde Sprache.
Mein Herz hämmerte schmerzhaft gegen meine Brust. Ich wollte gerade etwas sagen, als es einen gewaltigen Knall gab, jemand laut aufschrie und die Verbindung unterbrochen wurde. Warum? Was war passiert? Was?
Völlig verwirrt hielt ich das Telefon weiterhin an mein Ohr. Du hattest es gesagt und ich hatte meine Chance verpasst. Wieder einmal...
Mit wirren Gedanken machte ich mich auf den Weg zu unserem Hotel.
Lilly, ich hätte alles vorher wissen müssen. Hätte ich dir sofort geantwortet, dass ich dich ebenfalls mit jeder einzelnen Sehne von mir liebe, wäre vielleicht alles anders geworden. Vielleicht wärest du dann jetzt hier bei mir. Ich müsste nicht mit diesem großen Kummer leben. Könnte wieder lachen, leben, lieben. All das kann ich ohne dich nicht. Und wieder quält mich die Frage:
Warum bist du gegangen?
Sebastian
15 Brief
Liebste Lilly,
wieder Tage ohne dich. Ich lebe in der Vergangenheit. Zukunft ist ein Wort, das nichts mehr für mich wert ist. Was soll ich in der Zukunft, die ohne dich auf mich zu kommt? Eine Zukunft ist keine Zukunft, wenn man mit Sehnsucht, Kummer und unerfüllter Liebe lebt. Zukunft ist nur ein Wort für mich...
Vergangenheit! Vergangenheit ist mein Leben. Vergangenheit unser Zusammensein! Vergangenheit deine Liebe! Alles ist Vergangenheit!
Ich liege in meiner Wohnung, kraftlos, lustlos, lieblos und lebe in der Vergangenheit. Jede Sekunde erinnere ich mich an sie. Ich kann mich an alles erinnern. Vor allem an Berlin...
Ich kam in unserem Hotelzimmer an. Du warst noch nicht da. Unsere Dinge lagen noch alle so wie heute Morgen, als wir das Zimmer verlassen hatten. Ich ließ mich seufzend auf das Bett sinken. Würdest du nach deiner Knöchelverletzung erneut zum Einsatz müssen? Oder hattest du von nun an frei? Könnten wir endlich wieder gemeinsam die Rückfahrt antreten? Ich hoffte es.
Dann würdest du deinen Job aufgeben, zu mir ziehen und wir könnten unsere Liebe genießen.
Aber wo stecktest du nun? Es war bereits eine dreiviertel Stunde vergangen, seit dem wir telefoniert hatten. So lange brauchtest du doch sicherlich nicht, um zum Hotel zu gelangen. Und sicher würdest du mit einem Taxi fahren. Wo stecktest du?
Wenn ich es nur gewusst hätte, Lilly, dann wär ich zu dir gekommen. Sofort! Vielleicht wärst du dann auch nicht gegangen. Ich mache mir solche Vorwürfe. Ertrinke fast in ihnen. Es ist nicht mehr zum Aushalten. Nachts wache ich aus Albträumen auf, in denen ich sehe, wie du gehst. Lilly, das ist kein Leben mehr, das ich führe. Es ist eine reinste Folter. Eine Folter dafür, dass ich noch hier bin!!!
Ich saß auf dem Bett und holte den Ring aus meiner Jackentasche. Lächelnd klappte ich die Schatulle auf. Der Ring glitzerte im Licht der untergehenden Sonne, die ins Zimmer fiel. Sollte ich ihn dir heute schon geben? Als ein Zeichen meiner Liebe, die dich überallhin begleiten konnte. Die dich stützen sollte, wenn du am Boden lagst. Die dir Mut zusprechen sollte, wenn du ängstlich warst. Ja, ich wusste, dass heute der richtige Zeitpunkt war, um dir den Ring zu schenken.
Während ich den Ring betrachtete, hörte ich auf dem Flur vor der Tür Schritte. Gleich darauf wurde sie von außen aufgeschlossen. Ich schloss die Schatulle mit dem Ring und hielt sie in meiner Hand umklammert. Die Tür wurde aufgestoßen. Ich stand auf, ging zur Tür und schrie erschrocken auf. Es stand ein wildfremder Mann im Zimmer, ein Polizist, wie ich an seiner Uniform erkannte. Er erschrak genauso wie ich.
„Was – was wollen Sie hier?“, fragte ich nach dem ersten Schock.
Der Mann musterte mich. Sein Blick war versteinert, als er mich anblickte. Dann fragte er mich mit gesenkter Stimme, ob ich dein Freund sei. Ich bejahte es wahrheitsgemäß. Alle möglichen Dinge schossen mir in den Kopf. Alles, nur nicht das!
Der Mann brachte es fertig, mich unbemerkt vor das Bett zu dirigieren, indem er immer dichter auf mich zu kam. Er legte eine Hand auf meine Schulter, blickte zunächst zu Boden und überbrachte mir eine Nachricht.
Klirrend fiel mir die Schatulle mit dem Ring auf den Boden. Sie sprang auf und der Ring rollte hinüber zum Fenster, wo er auf der Seite liegen blieb. . In dem Licht der untergehenden Sonne glitzerte leicht der Spruch in der Innenseite: ENGEL SIND UNSTERBLICH
Und ich wusste, dass dieser Engel mich geliebt hat. Auch wenn er nicht wusste, wie sehr ich ihn liebte. Meine Liebe überwindet alle Grenzen, mein Schatz, auch die, die nun zwischen uns liegen.
Ich liebe dich für immer, mein Engel im Himmel!
Sebastian