12. Brief
Liebste Lilly,
du bist so weit weg, mein Engel. Ich kann dich nicht erreichen, Welten liegen nun zwischen uns. Das einzige, das uns vielleicht noch verbindet, ist meine Liebe zu dir. Sie wächst Sekunde zu Sekunde, unaufhörlich. Ich zerbreche fast durch sie. Mein Herz ist gebeutelt von Kummer. Gebeutelt von einer kaum gelebten Liebe. Warum bist du so früh von mir gegangen? Wir hatten gerade begonnen, uns richtig kennen zu lernen. Auf Ebenen, die kein anderer betreten konnte. Niemand konnte zwischen uns dringen. Wir vertrauten uns mehr als uns selbst. Und ich kann nicht mehr sagen als: Ich liebe dich!
Unendlich! Mein Engel...
Als wir am nächsten Morgen erwachten, schien die Sonne schon durch die dreckigen Vorhänge. Ich öffnete meine Augen. Sofort fiel mein Blick auf dich, wie ich dich in meinen Armen hielt. Hatte ich es gestern Abend nur geträumt? War es wirklich passiert?
Ich küsste deine Nasenspitze, die du daraufhin leicht rümpftest. Blinzelnd öffnetest du deine Augen, die an diesem Morgen noch lebensfroher leuchteten. Du lächeltest mich selig an und kuscheltest dich noch dichter an mich.
Mein Herz schrie wieder. Diesmal vor unaussprechlicher Freude. Eine Freude, die nicht lange währen sollte, mein Engelchen Lilly...
Wir lagen zusammen in dem engen Bett, schmiegten uns jeweils an den anderen und genossen unsere gemeinsame Zeit. Ich konnte nicht sagen, wie sehr ich dich in meinem Leben begehrte. Auch jetzt noch...
Eine Sehnsucht nach dir brennt tief in mir, unlöschbar. Nur du könntest das Feuer in mir zum Erlöschen bringen, doch du kommst nicht zu mir zurück. Warum, warum bist du überhaupt gegangen? Warum bereitest du mir solch einen Kummer, der mich auffrisst. Lilly!!!
Komm zu mir zurück! Ich vermisse dich doch so sehr! Du weißt es! Warum??? Warum??? Warum...?
Als wir mittags aus dem Hotel gingen, fühlte ich mich wie ein kleiner Junge, der gestern Nacht zum Mann geworden war. Erst seit gestern lebte ich. Seit gestern lebte ich wirklich... Die Frage war: Wie lange noch?
Wie lange sollte mein Glück mit dir währen? Doch zu dem Zeitpunkt machte ich mir keine Sorgen darüber, dass du mich eines Tages verlassen könntest. Schließlich weiß niemand, wann es vorbei ist...
An diesem Tag hattest du frei. Ein Glück für uns. Wir verließen das Hotel gegen Mittag, aßen in einem Restaurant in der Innenstadt und du hast mir von deiner Arbeit erzählt. In dieser Woche vor dem Treffen der Spitzenpolitiker solltet ihr noch einmal eingeführt werden, was jeder zu tun hatte. Du wurdest Zum Abhalten von Demonstranten, die auf jeden Fall erwartet wurden, eingeteilt. Ein Job, den du nicht so sehr mochtest. Immerhin stand sehr viel auf dem Spiel. Zwar war nicht jeder Demonstrant gewalttätig, aber es würden sicherlich einige nicht davor zurückschrecken, jemanden Schmerzen zu zu fügen, nur um durch die Polizeiabsperrung zu gelangen.
„Und davor habe ich etwas Angst!“, gestandst du mir.
Ich ließ mein Messer sinken, ergriff deine Hand, die mir gegenüber auf dem Tisch lag. Obwohl ich ebenfalls Angst um dich hatte, versuchte ich meinem Blick so viel Beruhigung zu legen, wie es mir in meiner Aufregung möglich war. Meine Stimme zitterte ein wenig, als ich dir sagte: „Lilly, ich weiß, dass du eine starke Frau bist. Dir wird nichts passieren! Du kommst wieder mit mir nach Hause und dann beginnen wir ein neues Leben!“
Deine Angespanntheit wich.
Ach, mein Engel, uns konnte nichts trennen. Nichts und niemand. Seit gestern wussten wir, wir waren füreinander geschaffen.
Ich kann an niemanden anderen denken als an dich. Dein Bild kreist unermüdlich in meinem Kopf, ich weiß, dass du bei mir bist. Und doch kann ich dich nicht sehen, mit dir sprechen, dich spüren. Es ist nur dein Geist, den ich fühlen kann. Für alles andere ist unsere Entfernung zueinander zu groß. Bitte Lilly, mach alles rückgängig und komme zu mir zurück. Könnte ich die Zeit zurückdrehen, wenn auch nur ein Mal, dann würde ich es ungeschehen machen. Du könntest dann wieder bei mir sein, mich spüren lassen, wie sehr du mich liebst. Ist deine Liebe mit dir gegangen? Bin ich noch in deinem Herzen? Lass es mich wissen, mein Engel! Ohne Gewissheit kann ich nicht mehr weiter leben. Nichts hat mehr einen Sinn... Nur Dunkel... Vielleicht für immer?!
Wir schlenderten durch die Stadt, benahmen uns wie zwei Teenager, die zum ersten Mal jemanden liebten. Es machte uns nichts aus, dass uns die gesamte Fußgängerzone beim Küssen zusah. Jede kleine Berührung deiner Lippen löste in mir wieder dieses Feuerwerk aus. Deine Küsse waren so zart, so fordernd und doch scheu zugleich.
Ich habe mir geschworen, nie wieder eine andere Frau zu küssen, außer dich. Ich werde auf dich warten, mein Engel. So lange, bis wir uns wieder in die Arme nehmen! Vielleicht dauert es gar nicht mehr so lange.
Lilly, ich muss weinen, wenn ich an unseren ersten Tag als Paar zurück denke. Mir steigen auch jetzt wieder Tränen in die Augen, ein Stechen durchzieht meine Brust, so stark, dass mir das Atmen schwer fällt. Mit dir ist auch mein Ich gegangen. Von mir selbst ist nur die Hülle zurückgeblieben, in der ich einst wohnte. Nur ein Körper, der langsam zerfällt, ist zurückgeblieben. Lilly, komm zurück! Komm zurück!!!
Liebe überquert alle Grenzen!
Sebastian
13. Brief
Liebste Lilly,
ich spüre, wie mein Herz aufgibt, weiter zu schlagen. Von Sekunde zu Sekunde klopft es leiser, langsamer, kraftloser. Ist es der schleichende Tod, der mich bald holen wird? Ein kaum merkliches Ableben, von dem nicht einmal jemand etwas bemerken wird, da ich alle Taue zur Außenwelt schon vor langer Zeit gekappt habe. Die einzige, die weiß, wie es mir geht, was ich mache, ob ich überhaupt noch lebe, bist du!!! Nur du kannst bestimmen, ob mein Herz aufhören wird zu schlagen. Ohne deine Liebe verliert es jeglichen Mut dazu.
Und ich erinnere mich wieder an die vielen Kämpfe zwischen ihm und meinem Verstand. Es ist ohnehin geschwächt von den verlorenen Schlachten. Erst in Berlin schaffte es mein Herz, sich durch zu setzen. Und schon wieder beginne ich zu weinen, wenn ich an den zweiten Abend in dieser Stadt denke.
Wir hatten einen schönen Nachmittag erlebt. Und jetzt saßen wir wieder in dem muffigen Zimmer mit den mottenzerfressenen Vorhängen. Ich machte mir Sorgen darüber, wo ich die nächsten 10 Tage verbringen sollte. Ich besaß keinen Cent, wusste nicht, wo ich wohnen sollte. Es gab nur einen Weg: Den zurück in meine Heimatstadt.
Doch mein Herz protestierte. Mein Verstand drängte sich in seine Meinung, sagte, ich sollte nach Hause fahren. Mein Herz verneinte. Es wollte bei meinem Engel bleiben. Zwar protestierte mein Verstand mit allen Mitteln, doch mein herz gewann. Seit gestern Abend hatte es so viel Macht erlangt, dass der unerträgliche Verstand nur noch ein kleines Häufchen in meinem Körper war. Die herrschende Macht in mir war meine Liebe zu dir. Ich wollte bleiben!
„Aber wo soll ich nur bleiben?“, fragte ich dich, als ich mit dem Kopf auf deinen Beinen auf dem Bett lag.
Du strichst mir über die Haare, schenktest mir einen aufmunternden Blick deiner vor Glück strahlenden Augen und sagtest: „Mach dir keine Sorgen. Bleib hier! Die Hotelangestellten kümmern sich nicht um dich, es ist ihnen egal, ob nun einer mehr oder weniger hier in dem Zimmer wohnt. Hauptsachte, man lässt sie in Ruhe. Und meine Kollegen wissen auch nicht, dass du hier bist. Also kannst du für lau hier bei mir bleiben. Unter einer Bedingung...“
Du hieltst plötzlich inne. Ich sah dich fragend an. Was für eine Bedingung? Ich würde alles tun, um bei dir sein zu können. ALLES!!!
Deine Augen nahmen wieder dieses magische Funkeln an, ein eigenartiges Lächeln umspielte deinen Mund, als du meinen Kopf in die Hände nahmst, mich hochzogst und mir einen leidenschaftlichen Kuss gabst. Ich schloss meine Augen, wollte nur noch fühlen. Deine Hände strichen energisch über meinen Nacken, ich öffnete die Spange in deinen Haaren. Sie fielen auf deine Schultern. Wieder wollte ich mehr und ließ es geschehen...
Lilly, du hast mir alles gegeben. Liebe, Wärme, Mut, Geborgenheit, Verständnis. Du warst mir eine große Stütze. Hast mir geholfen, durch das Leben zu finden. Gabst mir das Gefühl, wer zu sein. Du hast mir gezeigt, was Liebe ist...
Mitten in der Nacht erwachte ich. Die Lichter der Stadt drangen durch die Vorhänge. Sie warfen ein wenig Licht ins Zimmer. In dieser Dämmerung sah ich, dass ein glückliches Lächeln auf deinen Lippen lag. Ich streichelte dir vorsichtig über die Wange. Im Schlaf kamst du näher zu mir herüber und murmeltest leise. Ich küsste sanft deine Stirn, deine Nase, deine rechte Wange, deine linke und schließlich deinen Mund. Ich liebe dich so sehr, mein Engelchen. Ich wollte nicht, dass es dir schlecht erging, Um dich vor der Dunkelheit zu schützen, die um uns herum lauerte, legte ich meine Arme um dich. Dich in den Armen und Liebe im Herzen schlief ich wieder ein.
An dem darauffolgenden Tag musstest du fort, um dich auf die bevorstehende Woche vorzubereiten. Mir blieb nichts anderes übrig, als allein durch Berlin zu schlendern. Du hattest mir 50 Euro geliehen. Zuerst hatte ich mich vehement geweigert, es an zu nehmen. Ich wollte dir nicht auf der Tasche liegen, mein Engel Lilly. Doch dann sagtest du: „Nimm es! Ich bekomme es zurück. Auch wenn nicht in Geld. Verstehst du?“
Mit den Worten hast du mich geküsst und bist gegangen. Und ich hatte verstanden.
Jetzt stand ich vor einem Juweliergeschäft. Unzählige Schmuckstücke lagen im Schaufenster. Darunter auch einige Ringe. Sofort fiel mir einer ins Auge. Ein silberner Ring, besetzt mit einem kleinen weißen Stein. Einfach, aber wunderschön. Wie für einen Engel gemacht, dachte ich. Für einen Engel namens Lilly. Die 50 Euro von dir würde ich nicht nehmen (sie hätten ohnehin nicht gereicht), ich wollte selber bezahlen. Auch wenn ein klaffendes Loch von Schulden in mein Konto reißen würde – es war mir egal!!!
Ich betrat den kleinen Laden. Hinter einem Tresen stand ein älterer Herr, der Verkäufer wie sich herausstellte. Lächelnd kam er auf mich zu und erkundigte sich nach meinem Wunsch. Ich erklärte mein Anliegen und er holte den Ring aus dem Schaufenster. Während ich ihn mir betrachtete, erklärte mir der freundliche Verkäufer: „Sicherlich für Ihre Liebste! Darf ich Ihnen da vielleicht ein Angebot machen?“
Ich sah ihn an und wartete auf das Angebot.
„Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen in der Innenseite etwas eingravieren. Das Schmuckstück würde Ihre Liebste somit immer an Sie erinnern!“
Es würde mehr kosten, das war mir von vorneherein klar, aber du warst mir alles wert! Mein Leben hätte ich für dich gegeben, meine Liebste.
Ich war mit einer Gravur einverstanden und der Herr verschwand in einem kleinen Nebenraum, wo gleich darauf eine Maschine surrend angeschaltet wurde. Nach wenigen Minuten kam er zurück, packte den Ring in eine Schmuckschatulle, ich zahlte und verließ den Laden wieder. Wann sollte ich ihn dir geben? Heute? Morgen? Nächste Woche? Nein, ich entschloss mich dazu, ihn dir am letzten Tag in Berlin zu geben. Er sollte dich immer an unsere gemeinsame Zeit in dieser fremden Stadt erinnern, in der wir uns lieben lernten. Berlin war für mich mein Venedig. Was sollte ich in Italien, wenn ich hier meine Liebe gefunden hatte? Das Gute liegt oft so nah, meist stößt es einen um, ohne dass man es bemerkt. Manche Menschen erkennen es nie, andere später oder früher. Bei mir war es einfach zu spät. Ich hätte mich früher trauen sollen, dir meine Seele zu zeigen. Jetzt ist es zu spät. Du bist fort, ich weiß nicht wohin und du kommst auch nicht wieder.
Der Tag zog sich dahin wie das berühmte Kaugummi. Ich verbrachte die unendlichen Stunden damit, dass ich auf einer Bank im Park saß, den Ring betrachtete und mich darauf freute, ihn dir schenken zu können. Was würdest du wohl sagen? Solch eine Aufregung kannte ich nur aus Kindertagen. Jedes Jahr, kurz vor der Bescherung, stieg eine große Ungewissheit und Freude auf. Sie übernahm die Kontrolle über mein Denken, alle Gedanken kreisten um die Geschenke, die auf mich warteten. Jetzt war es die Vorfreude auf deine Reaktion. Und ein weiteres Mal stellte ich fest, die Liebe ist das größte Geschenk, dass ein Mensch in seinem Leben bekommen kann. Manchmal ist es ein Geschenk, dass nicht angenommen wird, manchmal bekommt man es nach einiger Zeit zurück, oder es wird für immer behalten. Ich hoffe, du wirst mein Geschenk an dich behalten. Deines trage ich immer in meinem Herzen, mein Engel. Und ich werde es mit in mein Grab nehmen, ohne dass ich es jemals wieder verschlossen habe.
Erst spät am Abend machte ich mich wieder auf den Weg zu unserem Hotel. Du hattest mir gesagt, dass du erst gegen zehn zurückkehren würdest. Um halb zehn betrat ich das muffige Zimmer, ging zum Fenster, zog die Vorhänge zur Seite und öffnete die Fensterflügel. In der Ferne leuchteten die Lichter des bekannten Fernsehturms. Ich vernahm die fahrenden Autos unten auf der Straße. Hier im zehnten Stock hörte man nur ein leises Rauschen. Langsam ließ ich den Blick über die Stadt schweifen. Wie viele Menschen hier lebten. Millionen! Und zwei von ihnen haben endlich zu sich gefunden. Einer von beiden wartet in einem heruntergekommenen Hotel, der andere ist vermutlich schon auf dem Weg zu ihm. Du weißt, von wem ich spreche?
Plötzlich hörte ich einen Schlüssel in der Tür. Endlich! Die Tür wurde geöffnet und du kamst herein. Du legtest deine Jacke auf den alten Stuhl, der gegenüber vom Bett an der Wand stand. Dann entdecktest du mich am Fenster. Selig lächelnd kamst du zu mir her. Mit einem leisen Seufzen nahmst du mich in den Arm.
„Ich bin so froh, dass du hier bist!“, flüstertest du mir ins Ohr und gabst mir einen zärtlichen Kuss auf die Wange.
Wir lösten uns aus der Umarmung und wandten uns zum Fenster. Du stelltest dich vor mich. Beschützend legte ich meine Arme von hinten um deinen Bauch. Deine Hände legten sich auf meine und deine Finger streichelten sie. Liebevoll ließ ich mein Kinn auf deine Schulter sinken. Ohne ein Wort zu sagen, blickten wir aus dem geöffneten Fenster auf die Stadt.
Ich liebte es, wenn du mir so nah warst. Einen Engel im Arm zu halten ist unbeschreiblich. Es gibt in keiner Sprache der Welt ein Wort, dass meine Gefühle für dich beschreiben könnte. So eine Liebe ist nicht in Worte zu fassen, man kann sie nur erfahren. Den Kopf ausschalten und die wundervolle Kraft zu spüren, die sich Liebe nennt. Eine Kraft, ohne die niemand auf der Welt existieren kann.
Meine Kraft liegt in dir!
Sebastian