- Brief
Liebste Lilly,
wie lange bist du nun fort? Ich habe keine Ahnung, wie viele Tage seit deinem Fortgehen verstrichen sind. Nur weiß ich, dass es zu viele sind. Es vergeht wirklich keine Sekunde, in der ich mich nicht nach dir sehne und einfach in deiner Nähe sein möchte. Immer wieder denke ich an dich. An all unsere Tage, die wir miteinander verbracht haben. Selbstverständlich auch an den Tag unserer ersten Begegnung. Erinnerst du dich?
Ich saß alleine in einer Bar, niemand sonst befand sich dort. Vor mir auf der Theke stand ein leeres Glas. Eines von vielen, die ich an diesem Abend schon geleert hatte. Den Grund dafür kenne ich noch zu gut: An diesem Tag wurde mir gekündigt. Hätte ich in dem Moment nur gewusst, dass ich durch diesen Schicksalsschlag jemanden kennen lerne, der mich so sehr verändern, mir die reinste Liebe meines Lebens schenken und mich alles andere unwichtig erscheinen lassen würde – ja, dann hätte ich gejubelt. Aber so weit ist es noch nicht. Ich saß immer noch an der leeren Bar, der Zeiger meiner Uhr überschritt gerade die elf, als ich einen sanften Luftzug spürte, der von der Tür kam. Mit müden Augen blickte ich kurz auf. In dem trüben Licht der Stätte erkannte ich zunächst nur einen Umriss, der auf die Theke zu kam. Ich versenkte meinen Blick wieder in mein leeres Glas, überlegte, ob ich mir noch eines bestellen sollte, als du in mein Leben tratst. Der Barhocker neben mir wurde zurückgeschoben, was meine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Und in der Sekunde, in der ich dich erblickte, geschah das wunderbarste in meinem bisherigen Leben: Ich verliebte mich so, wie niemals zuvor. Es war nicht nur deine Erscheinung – nein, es war deine Ausstrahlung. Du blicktest mich mit sanften blauen Augen an. Voller Unschuld, Freude und Wärme. Ich versank in ihnen, erkannte eine ganz andere Welt in ihnen. Eine Welt voller Glück, Seeligkeit und Geborgenheit. Durch deine Anwesenheit verlor ich die Beherrschung über meinen Körper. Ungeschickt wollte ich den Barkeeper darauf aufmerksam machen, dass ich noch etwas bestellen wollte und stieß dabei mein leeres Glas um. Klirrend fiel es vom Tresen auf den Boden, wobei der noch nasse Strohhalm auf deine Jeans fiel. Sofort breitete sich ein großer roter Fleck auf deinem rechten Bein aus. Meine Zunge gehorchte mir nicht und ich lallte mehr, als das ich mich bei dir entschuldigte. Es war mir so unendlich peinlich, du kannst es mir glauben, Liebste.
Du aber sahst mich nur an, nahmst eine Serviette und hast dir den Fleck selber etwas entfernt. Ich saß neben dir auf meinem Stuhl und guckte zu. Hättest du nur in mein Inneres hineinblicken können, hättest du mein Herz schreien hören können. Schreie nach dir, Schreie nach Sehnsucht, Schreie nach Liebe...
Ich lallte wieder unverständliche Worte. Du sagtest: „Es ist nicht schlimm. Die Hose sollte so wieso in den Altkleidersack.“
Deine Stimme hallte in meinen Ohren. So sanft wie die eines Engels, der einem eine frohe Botschaft überbringt. Eine helle, weiche und reine Stimme.
Mein Gott, Lilly, ich hasste mich in diesem Moment dafür, so viel getrunken zu haben. Ich konnte kein Wort heraus bringen. Saß nur regungslos auf meinem Stuhl und starrte dich an. Noch heute könnte ich mich dafür ohrfeigen. Seit dem, das weißt du, trinke ich nicht mehr. Obwohl ich sicher bin, eine solche Frau wie dich niemals wieder in einer Bar zu treffen. Solch eine Frau, die mein Leben bestimmt und erhellte. Erst durch dich erfuhr ich, wie es ist, wirklich zu leben und zu lieben.
Nach einiger Zeit des Schweigens sprachst du mich wieder an. Ich merkte es leider spät. Ich glaubte, als der größte Depp der ganzen Nation vor dem Engel Gottes zu sitzen. Du wolltest von mir wissen, welchen Drink ich dir empfehlen könnte. In meinem Gehirn spielten sich bedeutungslose Szenen ab, die ich gar nicht einzuordnen vermochte. Das einzige, was ich von mir gab, war ein gelalltes: „Den Trank der Liebenden!“
Ich wusste, mit diesem Satz verbaute ich mir die noch so kleinste Chance, dich in ein ernsthaftes Gespräch zu verwickeln, was von meinem Suff schon erschwert wurde. Aber du schienst ein solches Getränk zu kennen und bestelltest dir einen „Eckes Likör“. Ich sah dir dabei zu, wie du vorsichtig an deinem Gläschen nipptest, so als hättest du Angst dich an ihm zu verbrennen. Deine roten Lippen berührten den Glasrand nur sachte. Es war ein wundervolles Bild. Niemals werde ich es vergessen, wie du in der dunklen Bar neben mir saßt, deine blauen Augen strahlten und du nipptest an deinem Likör. Dieses Bild, Lilly, habe ich sicher in meinem Herzen eingeschlossen. Nur du besitzt den Schlüssel für diesen Schatz. Und nur du kannst es wieder aus meinem tiefen Herzen befreien.
Die Zeit schritt weit fort, wir saßen immer noch schweigend nebeneinander in dieser Bar. Ich traute mich nicht, etwas zu sagen, da ich Angst hatte, etwas falsches zu sagen. Ich genoss einfach nur diese Geborgenheit, die du ausstrahltest, als du plötzlich bezahltest und aufstandst. In meinem Inneren zog sich alles zusammen. Am liebsten hätte ich dir nachgerufen, du solltest bleiben, aber ich blieb regungslos auf meinem Hocker sitzen und starrte in mein Glas, kämpfte mit den Tränen. Ich dachte „Jetzt ist sie weg!“, als plötzlich deine engelsgleiche Stimme ertönte: „Und bitte, trinken Sie nicht mehr so viel! Sie sind schon betrunken wie eine Kneipe!“
Ich drehte mich um, entdeckte dich direkt hinter meinem Stuhl. Du lächeltest mich an, ließt deine Augen für mich strahlen und gingst dann hinaus. Du, meine Liebe des Lebens, gingst hinaus in die Nacht.
Lilly, ich vermisse dich so sehr. Dein Bild erscheint immer wieder vor meinen Augen. Warum nur bist du von mir gegangen? Ich verstehe es einfach nicht. Aber sei versichert: Ich liebe dich in Ewigkeit, egal wo du bist!
In tiefgründiger Liebe,
Sebastian
- Brief
Liebste Lilly,
wieder Tage ohne dich. Diese schweren Stunden fressen mich von innen her auf. Die Frage, warum du gegangen bist, dreht ihre Runden beharrlich in meinem Kopf. Überall sehe ich dich. Kein Ort, an dem du nicht allgegenwärtig bist. Es ist schrecklich. Und dann erinnere ich mich daran, wie wir uns zum zweiten Male trafen.
Ich war noch Tage später von dieser Frau, von dir Lilly, fasziniert, die ich eines Abends in einer Bar getroffen hatte. Obwohl wir nicht miteinander gesprochen und uns somit auch nicht richtig kennen gelernt hatten, wollte ich in deiner Nähe sein. Nachts träumte ich von dir. Keine großen Sachen, sonder nur davon, dass du neben mir in einer Bar saßt und einen „Eckes“ bestelltest. Immer wieder und wieder dieser Traum. Jeden Abend wenn ich im Bett lag, hoffte ich inständig, dich in meinen Träumen zu sehen. Niemals passierte etwas. Niemals sprachen wir dann miteinander. Nein, wir saßen nur nebeneinander. Wie damals in der Bar.
Und eines Morgens wachte ich auf. Ich erinnerte mich an den wundervollen Traum. Wusste ich an diesem Morgen, dass ich dich wiedersehen würde? Wissen ist vielleicht das falsche Wort – spüren, das ist richtig. Ich spürte genau, dass heute etwas besonderes geschehen sollte. Nicht einmal der Besuch auf dem Arbeitsamt, der heute anstand, machte mir etwas aus, obwohl ich dieses Amt niemals mochte. Immer solche Typen, die zwar hingingen, aber trotzdem gar keine Arbeit wollten. Solche Typen konnte ich noch nie leiden. Ohne die wäre die Wartezeit niemals so lang!
Ich betrat das Arbeitsamt mit relativ guter Laune, zog einen dieser Nummernzettel und suchte mir einen Platz weit außerhalb der wartenden Menschen. Gerade noch so, dass ich die Aufruftafel im Blick hatte.
Wie lange ich nun schon auf dem harten Plastikstuhl meine Zeit verbracht hatte, weiß ich nicht mehr, Lilly, aber dann spürte ich etwas. Eine ungeahnte Kraft lenkte meinen Blick von der Tafel direkt zur Tür hin. Noch verdeckte mir das spiegelnde Glas die Sicht hinter die Tür, aber dann wurde sie geöffnet. Von dir, meine Liebste Lilly. Du erhelltest den dunklen, tristen Raum mit deiner unglaublich warmen Ausstrahlung. Deine Schritte schwebten über den grauen Linolboden hin zum Nummernzettelspender. Mit elfengleichen Bewegungen hast du dir einen Zettel abgerissen, blicktest mit genervtem Blick auf ihn, dann zur Aufruftafel. Anschließend, ich ließ dich keine Sekunde aus den Augen, schautest du dich um. Alle Wartenden, etwas weiter von mir entfernt, waren Männer. Männer, die abends ihre Frauen zum Bierholen in die Küche schickten und sich dann nicht einmal dafür bedankten, wenn sie es geöffnet in die Hand gedrückt bekamen. Und eben diese Männer gafften dich mit offenen Mündern an. Einige richteten sich gerade auf den Plastikstühlen auf und strichen sich über ihr fettiges Haar. In irgendeiner Weise erinnerten mich diese Typen an fortpflanzungsfreudige Hähne. Du aber würdigtest ihnen keinen Blickes. Ohne die Typen zu beachten, gingst du an ihnen vorbei und – kamst direkt auf mich zu. Mein Herz vollführte einen Salto. Meine Beine begannen zu zittern und ich konnte nicht mehr klar denken. Und in diesem Moment entdeckte ich die Leidenschaft zur Poesie, die tief verborgen in mir ruhte und sich nun in mein Bewusstsein drängte. Ohne nachzudenken, brachtest du mich dazu, ein Gedicht zu verfassen, dass mich immer wieder an diesen Moment deines „Auf-mich-zu-kommens“ erinnern wird:
Träume
Immer wenn du bei mir bist,
Weiß ich, es ist alles gut.
Wenn ich dich sehe,
Vollführt mein Herz einen Salto,
Werden meine Beine schwach,
Beginne ich zu zittern.
Mein größter Wunsch ist es,
Dass wir einmal alleine sind,
Dass wir dann miteinander reden,
Dass du mich dann nur festhältst.
Vielleicht würde ich dir dann sagen,
Wie ich für dich empfinde.
Leider wird es aber nie kommen,
Dass wir alleine sind,
Und das macht mich traurig.
Drum werde ich weiter zittern,
Wird mein Herz Saltos schlagen,
Werden meine Beine schwach,
Ohne dass du weißt,
Dass es wegen dir passiert.
Und ich werde dich lieben,
Ohne meine Gefühle,
Die von dir erwidert werden.
Ich weiß, es mag ein wenig voreilig klingen, dass ich so stark für dich empfinde. Möglicherweise denkst du, ich fühle gar nichts für dich und spiele mich nun nur so auf. Immerhin kannten wir uns zu dem Zeitpunkt noch gar nicht. Aber Lilly, ich wusste, ich empfinde etwas für dich. Lies dir das Gedicht doch nur durch. So wirst du erkennen, dass ich wirklich für dich fühlte. Und es noch immer tue und es immer werde...
Du kamst direkt auf mich zu. Mir fiel vor Aufregung das Atmen schwer und wünschte mir sogar, du würdest dich nicht neben mich setzen. Doch plötzlich fiel dein Blick auf mich. Sofort umspielte ein kleines Lächeln deinen Mund. Ich konnte nicht anders und lächelte trotz meiner Nervösheit.
„Na, diesmal können Sie ja kein Glas umkippen!“, sagtest du zu mir, als du dich auf den Stuhl neben mir setztest.
Ich erkannte diese Anspielung natürlich augenblicklich, immerhin hatte ich mir unsere erste Begegnung oft vor meinem inneren Auge abgespielt. Ich fasste erst meine Stimme, bevor ich antwortete: „Nein, allerhöchstens Blumenkästen.“
Ich deutete auf die hässlichen Blumenkästen in diesem Raum. Du meintest, das sei nicht schlimm, da die Dinger eh hässlich seien. Darauf musste ich herzlich lachen. Noch nie hatte ich eine Frau getroffen, die über Blumenkübel solche Argumente hervorbrachte, wie du.
„Diese Dinger nehmen doch nur Platz weg. Außerdem stauben sie und die Blumen darin voll. Manchmal haben sie unten ein Loch, so dass das Wasser, das man oben hinein gießt, unten aus dem Loch wieder heraus kommt. Dann muss man das ganze Wasser wieder aufwischen. Hat man dann auch noch Teppich, gibt es eine große Sauerei!“
Denke ich jetzt daran zurück, schmunzele ich spontan. Aber dank des Blumenkastens vertieften wir uns so sehr in ein einigermaßen ernsthafteres Gespräch. Allerdings fragte ich mich, ob du dich noch an das Kneipenfiasko erinnern konntest. Hast du es getan? Das frage ich mich heute auch noch so wie damals.
Du saßt so dicht neben mir, dass deine nackten Knie gegen meine in der Jeans stießen. Du hattest diesen knielangen Schottenrock an, dazu ein dünnes schwarzes T-Shirt. Deine schulterlangen blonden Haare trugst du als Pferdeschwanz, der beim Lachen immer hin und her schlenkerte. Und wie immer stand ich vollkommen im Bann deiner Augen. Sie fesselten mich einfach. Dachte ich an meine grünen Augen, wurde mir wieder ganz anders. Sie hatten die Ähnlichkeit von einem Tümpel voller Entengrütze. Kein Schimmern, kein Leuchten, Nichts. Bei dir anders. Funkeln, Wärme, Leuchten, Geborgenheit, Liebe – alles, was man nur in zwei wunderschönen Augen erkennen kann.
Plötzlich, du sprachst gerade von einem ganz alten Blumenkübel deiner Großmutter, den du als kleines Mädchen einmal auf den Zeh bekommen hattest, sprang die Zahl auf der Tafel um. Nur aus den Augenwinkeln hatte ich es mitbekommen. Mit einem großen Entsetzen stellte ich fest, dass es meine Nummer war. Ende unseres Gesprächs. Finito. The end.
So dachte ich zumindest. Mit schweren Bewegungen schaffte ich es, von meinem Platz aufzustehen, mein Magen und meine Seele rebellierten regelrecht dabei, als du plötzlich sagtest: „Es war nett mit Ihnen zu reden! Vielleicht einmal wieder?“
Dieser Satz brachte mich außer Fassung. Vor meinen Augen blitzte es, mein Herz setzte für ein paar Schläge aus und ich starrte dich ungläubig an. Hattest du es wirklich gesagt? Ich konnte es wirklich nicht glauben. Du, Frau meines Herzens, fragtest mich, ob es ein Wiedersehen geben werde. Und was, was machte ich? In meinem Taumel gab ich gluckernde Laute von mir. Kein einziger Laut entsprach dem, was er eigentlich sagen sollte. Ich kam mir vor wie der größte Depp, aber du lächeltest mich an. Mit einer solch weichen Stimme meintest du, ob ich immer solch eine Sprache spreche und ob ich gerade eben bei unserem Gespräch mein Fremdsprachengedächtnis genutzt habe. Mir war das ganze so peinlich, dass ich einfach nur nickte.
Lilly, glaubst du etwa, ich stellte mich nur aus Albernheit so an? Glaubst du es? Nein, Lilly, ich habe es nicht getan! Es lag einfach nur an dir. Mein Herz begehrte dich (was es immer noch tut), wünschte sich die Wärme deiner Augen zu spüren. Alles andere setzte in dem Moment nur aus.
Mein Nicken brachte dich zum Lachen. Mich eher zu dem Wunsch im Boden versinken zu können. Einfach weg, einfach verschwinden, einfach das Geschehene ungeschehen machen. Blamiert, zum zweiten Mal. Nein, nein, nein! Ich dachte immer wieder nur „Nein“. Wie oft? Tausend Mal? Zehntausend? Eine Million Mal? Nur so oft, wie man es bei einer verpatzten Chance zu lieben nur „Nein“ sagen kann.
Ich stand da, vor dem Stuhl auf dem du saßt und zu mir empor blicktest. Deine Augen strahlten wieder so freundlich und voller Lebensfreude, dass ich meinen Aufruf vollkommen vergaß. Was brachte mir ein Job, den ich nicht wollte, wenn ich hier das einzig Wahre im Leben spüren konnte: Liebe.
Ein leises Knacken brach zu mir hindurch. Ich nahm es kaum wahr, hatte nur Augen für dich. Und du hast an mir vorbei gesehen, ein verdutztes und gleichzeitig schadenfrohes Gesicht gezogen und schmunzelnd gesagt: „Jetzt müssen Sie noch mal so lange warten, bis Sie wieder aufgerufen werden. Das war gerade Ihre Nummer!“
Egal, egal, egal, Lilly! Egal! Ich hatte dich bei mir. Nicht so nah, wie ich es mir wünschte, aber ich hatte dich in meinem Herzen und vor meinen Augen. Das schönste Gefühl meines Lebens. Einen Menschen zu kennen, der einem so viel bedeutete wie nichts anderes auf der Welt.
Ganz langsam fasste ich mich wieder, setzte mich zurück auf meinen Stuhl. Ich versuchte all meine Gefühle in meinen Blick zu legen und fragte fast flüsternd: „Ich möchte Sie wiedersehen!“
Deine erste Reaktion stach in meinem Herzen. Anstatt ebenfalls so gefühlvoll zu sagen, dass du es ebenfalls wolltest, brachst du in schallendes Gelächter aus. Die Typen in einiger Entfernung verdrehten sich die Hälse, um zu sehen wer dich zum Lachen brachte. Dein Lachen erfüllte zwar die Beerdigungsatmosphäre im Arbeitsamt, aber nagte an meiner Seele. Ich offenbarte meinen größten Wunsch seit unserer ersten Begegnung und du lachtest mich regelrecht aus. Es dauerte lange, fast zu lange für mich, bis du dich wieder im Griff hattest. Noch von einigem Glucksen geschüttelt fragtest du mich, fest mit den Augen am Platz haltend: „Ich fragte mich schon die ganze Zeit, während wir hier saßen, wann Sie das sagen würden!“
Ich verstand kein Wort. Du sprachst in Rätseln für mich, Lilly. Einfach nur in Rätseln. Ich möchte von dir wissen, warum hast du dich das die ganze zeit gefragt! Sag es mir bitte, mich quält die Frage so sehr!
Mir fiel ein Stein vom angenagten Herzen. Du hattest mich nicht wegen der Frage ausgelacht, sondern nur durch die Verspätung. Ich hatte es noch nicht ganz verarbeitet, als du mir sagtest: „Bitte, mein Herr, ich möchte Sie auch gerne wieder treffen! Mit Ihnen zu reden ist so befreiend. Es sei denn...“
Es sei denn was? Ich fragte dich nur mit einem Blick, der direkt in deine blauen Augen endete.
„Na ja, es sei denn, Sie sprechen wieder in Ihrer Muttersprache!“
Nun packte mich dein Humor und ich begann hemmungslos und laut zu lachen. Was nahmst du eigentlich ernst, Lilly? Jeder Patzer von anderen war in deinen Augen nur ein Grund, einen Witz zu machen, ohne dass er den Geschädigten verletzte. Diese Eigenart liebe ich so sehr an dir, mein Stern.
Und Sterne spenden Licht in der Dunkelheit!
Sebastian
- Brief
Liebste Lilly, mein Stern am dunklen Horizont,
Sekunden, Minuten, Stunden, Tage wie Blei dahingeflossen. Zäh, schwer und grau. Ohne Licht am Horizont, keine Freude in meinem Herzen. Ohne dich, Lilly! Ich sehe kaum einen Grund hier an diesem Ort zu verweilen, da ich weiß, du bist woanders. Liebe kann schmerzen wie ein Fall auf Millionen von spitzen Nadeln. Sie bohren sich in deinen Körper, hinterlassen große Narben und erinnern dich an eine schlimme Erfahrung. So ist es bei mir. Du bist nicht da, ich bin allein mit einer unausgelebten Liebe. Keine Gefühle die erwidert werden können. Dabei sagte jemand: Unerwiderte Liebe ist die schönste Liebe. Derjenige muss niemals geliebt haben wie ich. Niemals einen Menschen so sehr begehrt, so verehrt haben wie ich es tue. Mir kommen Tränen, denke ich an unseren Unternehmungen.
Nach der Begegnung im Arbeitsamt hattest du mir auf dem Weg nach draußen vorgeschlagen, ob wir nicht zum Freizeitpark hier in der Nähe fahren könnten. Du wolltest mich auf dem Wege kennen lernen.
„Und ich kann einfach abhauen und mich allein amüsieren, wenn Sie mir nicht gefallen!“, so hattest du es weiter begründet, einen Abstecher dorthin zu machen.
Ich musste wieder lachen. Du tatst es oft. Nur ein Wort oder ein Blick reichte, um mich zum Lachen zu bringen. Keiner hatte es vor dir geschafft. Vor dir war ich ein mürrischer Kerl, der kaum lachte, nur die wirklichen Dinge in der Welt wahrnahm, für Komik und Humor kein Auge hatte. Und jetzt? Ich kann an keinem Straßenclown mehr vorbeigehen, muss stehen bleiben und ihn bei seinen Späßen beobachten. Dank dir, Lilly. Nur dank dir, meine Liebste Lilly.
Wir verabredeten uns für das folgende Wochenende. Ich wundere mich heute, wie ich die vier Tage bis dahin nur überstehen konnte. Die Zeit kroch nur so hinweg, dass ich dachte, man habe eine Sekunde zur Stunde gemacht. In meiner Liebe spürte ich keinerlei Bewegung der Zeit. Nur eins: Begehren und Ungeduld.
Diese Ungeduld brachte mich sogar so weit, dass ich abermals zum Arbeitsamt ging. Ohne Erfolg. Den einzigen Beruf, den man mir hätte vermitteln können, war Kassierer im Supermarkt. Für einen Journalisten, der immer auf Tour ist und Abwechslung sucht, ein unmögliches Angebot. Ich schlug den Job ab, obwohl ich einen Job brauchte. Doch das war mir egal. Nur zwei Tage später solle ich dich wiedersehen, Lilly. Nur das zählte. Die Tage bis dann überstehen, ohne verrückt zu werden. Ich räumte meine Wohnung sieben Mal am Tag auf, trank unendlich viel Tee, sah stundenlang fern, nur um die Zeit tot zu schlagen. An dem Abend vor unserem Treffen war ich so aufgewühlt, dass ich nicht schlafen konnte. Am nächsten Morgen wachte ich nach nur drei Stunden Schlaf auf. Und trotzdem fühlte ich mich wie nach einer ausreichenden Dosis Schlaf. Alles nur wegen dir, meine Lilly.
Wir trafen uns am Eingang zum Park. Schon von weitem konnte ich dich sehen. Du standst vor dem Springbrunnen, dein Haar wehte in dem leichten Wind, der an diesem Tag herrschte. Die khakifarbene Hose mit den kleinen Taschen an den Seiten passte hervorragend zu dem beigen T-Shirt, das du trugst. Ich war einfach nur von deiner Einfachheit begeistert. Andere Frauen hätten sich aufgedonnert, geschminkt bis zum Abwinken, ihre Reize spielen lassen. Und du standst da, ungeschminkt, normal gekleidet und froh, mich zu sehen.
„Da sind Sie ja! Ich habe schon Karten für uns besorgt!“, so hast du mich damals begrüßt.
In deiner Hand schlenkertest du zwei Eintrittskarten. Eine von ihnen hast du mir übergeben. Deine Hand berührte meine nur ganz kurz, aber durch meinen gesamten Körper fuhr eine gewaltige Welle von Freude und Wärme. Es durchflutete mich wie ein aufgestauter See ein Tal. Es fühlte sich so gut an. Weiche, zarte warme Haut. Deine weiche, zarte warme Haut. Auf meiner… Unsere erste Berührung. Ich wollte mehr. Hielt meine Gefühle allerdings zurück, da du zum Eingang vorgingst und mich nach gewunken hast. Ich lief schnell zu dir herüber, stellte mich ganz dicht hinter dich in die kurze Warteschlange vor dem Drehkreuz, das nur durch das Einschieben der Karte geöffnet wurde. Stell dir vor, Lilly, ich besitze dieses Stück Papier heute immer noch. Nur eine kleine, benutzte und somit wertlose Eintrittskarte für einen Freizeitpark. Doch dieses, für viele Menschen wertlose, Papier ist für mich Erinnerung an einen wundervollen Tag, den wir zusammen verbrachten. Ich weiß noch genau, wie wir am Anfang des Parkgeländes in dieses Kaffeetassenkarussell gingen. Mir war gar nicht wohl bei dem Gedanken, mich auf dem Boden und auch noch mit der Tasse zu drehen. Nur du hast mich dazu gebracht, in dieses Monstrum einzusteigen. Mein Herz flatterte ganz wild, als sich das Karussell in Bewegung setzte. Weil du neben mir saßt, Liebste. So dicht neben mir… Lilly, ich gehe heute immer noch in das Karussell, wenn ich in dem Park bin, nur um mir vorzustellen, du sitzt neben mir, dein Knie an meinem. Niemals vergesse ich es, das verspreche ich dir!
Nach dieser wilden Fahrt zogst du mich zur Wildwasserbahn. Deine Hand in meiner – einfach nur ein Traum? Nein, du hast wirklich meine Hand genommen und mich mit dir gezogen. Willig ließ ich es geschehen. Am Einstieg der Boote sagtest du zu mir, ich sollte mich nach hinten setzten. Du würdest dann vor mir sitzen. Mit rasendem Atem setzte ich mich in en hinteren Teil des Bootes (ich verschwieg dir, dass ich Wildwasserbahnen hasste). Und was machtest du? Du setztest dich vor mich, rücktest ganz dicht an mich heran, saßt zwischen meinen Beinen und lehntest dich mit dem Rücken an meiner Brust an. Ich möchte dir nur sagen, dass ich zu dem Punkt nicht an das dachte, an das manche Männer in dem Moment gedacht hätten. Nein, ich fühlte in mir drinnen nur Seeligkeit, dich bei mir zu haben und den Duft deiner Haare einatmen zu können.
Während wir nach oben zum Rundkurs gezogen wurden, hast du mich gefragt, ob wir uns nicht duzen wollten. Und diesmal tat ich es dir wie im Arbeitsamt gleich und sagte: „Ich fragte mich schon die ganze Zeit, wann du das sagen würdest!“
Du lachtest los, ich stimmte mit ein. Leicht schaukelnd bahnten wir uns den Weg durch den Kanal der Bahn. Immer wieder leicht an den Wänden des Kanals anstoßend, schipperten wir dahin. Und der Wasserfall kam näher. Ich weiß nun nicht, warum mein Herz so klopfte. Wegen dir oder wegen dem Wasserfall? Das einzige, was mir Mut machte, warst du, Lilly! Ohne dich wäre ich niemals in die Wildwasserbahn mit 30 Meter Schussfahrt eingestiegen. Nur meine Liebe zu dir ließ es zu…
Auf dem Weg zum Wasserfall redeten wir viel. Nicht an alles kann ich mich jetzt noch erinnern, es würde dich wahrscheinlich gar nicht mehr interessieren.
Doch dann hörte ich ein lautes Rauschen. Das Rauschen der Schussfahrt. Ich hielt den Atem an. Du merktest es, drehtest dich zu mir um und sahst mich an.
„Was ist?“, hast du gefragt.
„Ich mag keine Schussfahrten in der Wildwasserbahn!“, war meine Antwort. Sie kam kleinlaut und genuschelt herüber. Ich fand es wahnsinnig peinlich als Mann Angst vor einer Wildwasserbahn zu haben. Doch du nahmst meine Hände, hieltst sie vor deinem Bauch zusammen und meintest: „Ich halte dich fest, dann passiert nichts. Vertrau mir!“
Vertrauen. Vertrauen. Vertrauen. Ich vertraute dir. Ich vertraute dir mehr als mir selbst. Nichts hätte mich davon abgebracht, dir nicht zu vertrauen. Lilly, ich vertraue dir noch jetzt…
Deine Hände waren warm, wie vorhin. Sie umschlossen meine schweißnassen Finger sanft, gaben mir Mut. Ich glaubte, zu spüren, wie ein Teil deiner Mut in mich überging, denn der nahende Abfall flößte mir nicht mehr so viel Angst ein. Als er dann vor uns auftauchte, klopfte mein Herz zwar schnell, aber ich blieb ruhig. In den Sekunden, in denen das Boot kurz vor dem Abfall stehen blieb, blieb auch für mich die Zeit stehen. Deine Finger verankerten sich in meinen, ich fuhr vorsichtig mit meinen über deine, die es auch leicht erwiderten. Diese Berührungen waren so gut, so vorsichtig und doch gingen wir weiter als ich dachte.
Leise knarrend rutschte das Boot nun weiter nach vorne, verlor die Haftung und jagte in einem wahnsinnigen Tempo die Schussfahrt hinunter, dass mir mein Herz nun doch stehen blieb. Obwohl wir zwei schon erwachsene Menschen waren, schrien wir so laut, dass man es im gesamten Park hätte hören können. Dieses Schreien war so befreiend, alle Anspannungen in mir lösten sich und mich durchströmte ein Glücksgefühl, das ich noch nie gespürt hatte. Dank dir, mein Engel!
Platschend kamen wir unten an. Unser Boot schaukelte mächtig hin und her, Wasser spritzte auf, traf uns im Gesicht. Wir lachten nun nach den Schreien, freuten uns auf eine weitere Tour. Ich hatte endlich die Angst vor der Wildwasserbahn verloren!
Auch der Rest des Tages war einfach nur wundervoll. Kannst du dich noch erinnern? Ich hoffe es inständig.
Du bist mein Leben, Lilly.
Sebastian
- Brief
Liebste Lilly,
geht es dir gut, dort wo du bist? Behandelt man dich anständig? Hast du Freunde? Bitte, lass es mich wissen. Ich zermatere mir den Kopf mit solchen Fragen. Ohne zu wissen, wie es dir geht, kann ich kaum schlafen. Mein Herz ist hungrig nach deiner Liebe, Lilly. Liebe, die nur du mir geben kannst. Ich will keine andere Frau haben außer dich! Keine ist wie du! So einfach, liebevoll und voller Geheimnisse, die ich erkunden möchte. Warum bist du gegangen? Ich vermisse dich. Meine Tage verbringe ich mit Erinnerungen an dich und mich. Nach unserem Tag im Freizeitpark kamen noch viele andere Tage an denen wir uns trafen. Ich freute mich auf jeden. Dich in meiner Nähe zu haben war unglaublich. Erst dann lebte ich. In der Zeit zwischen unseren Treffen versteckte ich mich in meinem Inneren, ließ nur eine Hülle in der Außenwelt. Ohne dich hatte ich keine Lust etwas zu unternehmen, Lilly. Ohne dich war alles nicht lebenswert. Die Welt schien farblos ohne dich. Kein Baum, der grün leuchtete. Keine Blume, die ihre strahlenden Farben schenkte. Kein Himmel, der sein Blau über unseren Köpfen ausbreitete. Alles nur ein Grau.
Eines Morgens, ich stand in der Küche, betrachtete den Himmel, der für mich grau erschien und dachte darüber nach, wann ich dich endlich wieder sehe, als es an der Tür klingelte. Schlurfend ging ich zur Tür, öffnete sie und stieß einen ungewollten Schrei aus.
„Hi!“
Du standst vor mir, mitten in der Woche, morgens um halb zehn. Und das ohne Grund! Meine Verwunderung wechselte sofort in große Freude um. Innerhalb von Sekundenbruchteilen schlug meine depressive Laune um. Du kannst dir kaum vorstellen, wie ich mich gefreut habe. Die Frau, die ich so sehr begehrte, verehrte, vermisste, liebte, stand vor mir und strahle mich mit großen Augen an. Endlich! Als hättest du meinen stillen Hilferuf erhört. Lilly, dafür liebe ich dich!
„Hi!“, brachte ich nach Stunden des Schweigens vor der Tür heraus. „Was... was machst du denn hier?“
Ich muss zugeben, dein plötzliches Auftauchen brachte mich sehr durcheinander, Lilly. Ich verstand nicht, weshalb du bei mir warst, ohne vorher bescheid zu sagen. Bisher trafen wir uns nur nach Absprache. Und wenn, dann auch nur außerhalb unserer Wohnungen. Wir liebten unsere Freiheit – und ich jedes Zusammensein mit dir! Daher freute ich mich auch unbändig, dich nun zu sehen. Ich bat dich zuerst herein und fragte dann, weshalb du so unverhofft aufgetaucht warst.
„Langeweile und Lust mal wieder mit dir zu reden!“, so lautete deine Antwort.
Du setztest dich an den völlig überfüllten Küchentisch, mit leeren Marmeladengläsern, benutzten Kaffeetassen und meinem halbaufgegessenen Frühstück. Schnell beseitigte ich mein Chaos, das nur durch die Sehnsucht zu dir entstanden war. Mein Laptop stand aufgeklappt auf der Küchenzeile, ein alter Artikel über Liebe auf den ersten Blick flimmerte auf dem Bildschirm. Ich sollte ihn kurz vor meiner Entlassung für die Zeitung erarbeiten. Natürlich interessiertest du dich für diesen halben Artikel, in dem es darum ging, ob man sich wirklich auf den ersten Blick verlieben konnte. Bisher stand in dem Bericht, dass es schon möglich sei, allerdings nur sehr selten passierte. Beziehungen, die daraus entstanden, gingen oft wieder in die Brüche. Du warst da ganz anderer Meinung.
„Und, was hältst du nun davon? Das ist doch nur die Meinung von irgendwelchen Sozialwissenschaftlern, die du da wiedergibst.“, das sagtest du zu mir, nachdem du dir den halben Artikel durchgelesen hattest.
Ja, ich hätte jetzt die Wahrheit über dich erzählen können, war mir aber nicht sicher, ob du es so aufnehmen würdest, wie ich es mir von ganzem Herzen wünschte. Unsere Beziehung bestand für dich nur platonisch. Mehr als eine freundliche Umarmung, oder ein kurzes mutspendendes Händchenhalten wie damals im Freizeitpark, das gab es nicht bei uns. Und ich war trotzdem glücklich mit dir. Du entwickeltest dich innerhalb von Minuten zu meiner allerbesten Freundin. Auch wenn ich dich so sehr liebte, ich stellte mir nichts vor. Keine wilden Träume, Wünsche oder Phantasien. Meine Liebe beruhte darauf, mit dir zusammen zu sein und die Zeit mit dir zu verbringen. Zwar wünschte ich mir einen Kuss, Zärtlichkeiten, aber nicht das, was sich viele Männer mit dir wünschten.
Daher schwieg ich. Ich versuchte deinem wachsamen Blick auszuweichen, überlegte, was genau ich dir nun sagen sollte. Viele Überlegungen stellte ich zusammen und sagte: „Weißt du, es ist mir schon passiert.“
Mit dieser Antwort warst du zufrieden. Du stelltest keine weiteren Fragen, wer oder wie, sondern lächeltest mich an und strichst mir über die Hand. Eine unserer kostbaren und seltenen Berührungen. Ich versuchte mein Herz zu beruhigen, indem ich ihm einredete, wir seien so am besten beholfen. Doch sein Flehen nach deiner Liebe war so laut, dass du es hättest hören müssen. Dennoch blieb mein Verstand dabei, dir nichts von meinen Gefühlen zu erzählen. Ich traute mich nicht, den ersten Schritt zu tun. Sollte es eine Ewigkeit so gehen, Hauptsache, du warst bei mir...
Lilly, du warst für mich da. Hörtest mir nur zu, ohne mich mit Fragen zu überschütten. Andere Frauen wollen einem helfen, indem sie einem viele Fragen stellen. Nur damit machen sie es meist nur schlimmer. Wir Männer schweigen lieber, als unsere Probleme mit anderen zu teilen. Das, was wir in solchen Momenten brauchen, ist jemand, der einfach nur da ist, dich ohne Worte versteht und dich vielleicht in den Arm nimmt. Aber niemanden, der nur redet, versucht, alles aus dir heraus zu bekommen. Lilly, du warst nicht so. Niemals stelltest du unnötige Fragen. Hattest du ein Problem, brauchte ich dich nur ansehen und verstand alles. Genauso war es anders herum. Ohne Worte zu kommunizieren schaffen nur Seelenverwandte oder Menschen, die sich lieben und es vielleicht nicht einmal genau wissen. So wie bei uns. Ich wusste ganz genau, dass ich dich über alles liebe. Nur du spürtest „nur“ Freundschaft. Ich wahre Liebe...
Kannst du dich an den Tag erinnern, an dem ich wieder einmal ohne Job vom Arbeitsamt zurückkam und bei dir anrief? Du sagtest, du kämst sofort zu mir her. Keine viertel Stunde war vergangen, da klingeltest du an der Tür. Ich öffnete und du hieltst mir zwei Pizzakartons unter die Nase. Ja, du wusstest, wie man einen deprimierten Menschen wieder auf die Beine brachte. Wir setzten uns auf mein Sofa, ich schaltete ein Video ein und wir aßen die Pizzen bis auf den letzten Rest auf. Dabei sprachen wir höchstens fünf Sätze miteinander. Du hattest deinen Kopf auf meine Beine gelegt und hattest dich auf dem Sofa ausgestreckt.
„Was hast du eigentlich damals auf dem Arbeitsamt gemacht?“, wollte ich dann von dir wissen, während du mich mit deinen blauen Augen anlächeltest.
Du hast dir mit der Antwort Zeit gelassen. Du hast dir deine Finger angesehen, einen Krümel unter dem Fingernagel weggeholt und dann eine Gegenfrage gestellt: „Warum willst du das denn wissen? Hast du Angst, du bist mit einer finanziell schwachen befreundet?“
Daraufhin musste ich wieder lachen. Du hast es wieder verdreht, dass etwas nicht witziges zum Lachen ansteckte. Dein Humor, Lilly, einfach nur liebenswert.
Nachdem ich mich wieder beruhigt hatte, erzähltest du, dass du für eine Freundin, die krank im Bett lag, einen schnellen Gang zum Arbeitsamt machen musstest. Dein Job war der einer jungen Polizistin.
Damals hattest du gerade frei, daher hattest du so viel Zeit für mich. Ich genoss es, mit dir auf dem Sofa zu sitzen. Deinen Kopf auf meinen Beinen zu spüren und zu wissen DU BIST DA!
Die nächsten Tage verbrachten wir damit, dass wir uns gegenseitig besuchten. Ich entdeckte die Liebe zu Gesellschaftsspielen, die ich zuvor immer verabscheut hatte. Miteinander am Küchentisch sitzend, haben wir eine gesamte Nacht bei mir verbracht. Die ganze Nacht Monopoly spielend. Ich bestellte uns zwei Pizzen, machte Orangensaft mit meinem neuen Entsafter, den ich mir trotz Geldknappheit zugelegt hatte und wir redeten wieder über Gott und die Welt. Über deine Schulzeit, in der du die Leidenschaft zu helfen in dir gefunden hast. Oft, so erzähltest du, hättest du dich auf dem Schulhof gegen ältere Schüler für die kleineren durchgesetzt. Dir war es egal, ob dein „Gegner“ nun zwei Köpfe größer war oder eben nicht. Du wolltest nur, dass jeder gerecht behandelt wurde und keine Nachteile erfuhr. Deshalb hattest du früh den Entschluss gefasst, zur Polizei zu gehen. Du liebtest deinen Job über alles. Blühtest in ihm auf.
Nur ich konnte es nicht. Mein Job war Geschichte. Nirgends eine Stelle für mich, nur Jobs als Kassierer oder Möbelpacker. Keiner suchte einen begabten Journalisten. Ich war deprimiert.
Du bautest mich auf, nahmst mich freundschaftlich in den Arm. Auch in unserer ersten „gemeinsamen Nacht“. Du legtest mir den Arm um die Schultern und meintest: „Du wirst sehen, es wird alles wieder gut!“
Dann legte ich meinen Kopf an deine Schulter. Ich spürte wieder diese unbeschreibliche Liebe zu dir, die mir Kraft gab, nicht aufzugeben. Lilly, ich liebte dich so sehr.
Liebe zeichnet ein Leben lang,
Sebastian