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Briefe 10 - 11


10. Brief

Liebste Lilly,

kann sich ein Segelboot ohne den Wind fortbewegen? Kann ein Baum Laub tragen ohne die Jahreszeiten? Kann ein Vogel ohne seine Flügel fliegen? Und kann ein Mensch ohne Liebe leben? Alles ist unmöglich. Das Boot bleibt liegen, der Baum bleibt kahl, der Vogel bewegungslos und der Mensch vergeht.

So ist es bei mir. Jeden Tag merke ich, wie ich schwächer werde.

Ich bin verloren ohne dich! Komm zurück zu mir und helfe mir, ins Leben zurück zu finden. Ohne dich werde ich es niemals schaffen, Lilly! Komm wieder!!!

Das hätte ich auch am liebsten gesagt, als du in den Zug nach Berlin gestiegen und abgefahren bist. Du hattest mir versprochen, die letzten Tage mit mir zu verbringen. Doch du hattest keine Zeit. Oh, wie sehr verfluchte ich in den einsamen Zeiten deinen Job. Du musstest noch viel vorbereiten, warst vollkommen auf deinen Job fixiert. Ich war abgemeldet. Lilly, ich war regelrecht eifersüchtig auf deinen Job. Ich war so sehr in dich verliebt, dass ich eifersüchtig auf einen Job war!

Und dann holte ich dich am Freitag morgens um halb neun bei dir zu Hause ab. Du schlepptest zwei Koffer mit dir und warst aufgeregt. Ich konnte dich gar nicht mehr beruhigen. Du hast mich sogar mit deiner Nervosität angesteckt. Als wir dann aber den Bahnhof erreichten, wurdest du ganz still. Regelrecht abwesen. Lilly, in dem Moment warst du mir fremd.

Ich half dir, deine Koffer zum Bahnsteig zu tragen.

„Säße ich doch nur schon im Zug!“, sagtest du aufgeregt und blicktest die Schienen links und rechts herunter.

Wolltest du so unbedingt von mir getrennt werden? Ich konnte es nicht glauben. Du freutest dich darauf, von mir getrennt zu sein?

„Bin ich so schlimm?“, fragte ich humoristisch, obwohl ich lieber geweint hätte.

Du drehtest dich zu mir um. Zunächst konnte ich deinen ernsten Blick nicht deuten. Dein Gesicht war versteinert, deine Augen lachten mich in ihrem strahlendsten Blau an. Es verwirrte mich. Ein paar Sekunden, in denen ich fast verrückt geworden wäre. Du hast mich zappeln lassen, Liebste. Wie einen Fisch an der Angel. Nahm man ihn ab oder sollte er die Freiheit weiterhin genießen, indem man ihn wieder ins Wasser schmiss?

So habe ich mich in den Sekunden deines Schweigens gefühlt. Wie ein Fisch an der Angel...

Lilly, ich danke dir, da du dich für die Freiheit entschieden hast, da du mir plötzlich  lachend sagtest: „Aber natürlich! Du weißt genau, dass ich nur ungern ohne dich fahre!“

Mit großem Grausen vernahm ich die Zugansage.

„Einfahrt auf Gleis drei  hält der Intercityexpress nach Berlin. Bitte Vorsicht bei der Einfahrt!“

Nein, wir hatten nur noch Sekunden. Ich spürte die Erschütterungen im Boden, als der ICE neben uns einfuhr. Der Fahrtwind blies dir ins Gesicht und spielte mit deinen Haaren.

Wie ein Engel im Wind...

Leise quietschend hielt der Zug, die Türen surrten auf und viele Menschen stiegen aus. Sie eilten zu den Treppen, zu ihren wartenden Freunden, zu anderen Zügen, die sie noch erreichen mussten. Und zwischen diesem Gedränge und Gewühl standen wir wie angewurzelt. Keiner von uns beiden wagte es, etwas zu sagen. Keiner rührte sich, blickte dem anderen nur in die Augen. Du mir in meine traurigen grünen Augen, ohne irgendeinen Schimmer, ich in deine blauen, die ebenfalls Traurigkeit wiederspiegelten.

Lilly, ich wollte dich nicht gehen lassen. Ich wollte nicht, dass du nach Berlin fuhrst, nur damit du irgendwelche Politiker schützen konntest, die deine Arbeit vielleicht gar nicht schätzten. Sie schätzten nicht deinen Einsatz deines Lebens! Ich dagegen schätzte dich. Ich verehrte dich, sehnte mich in einsamen Stunden nach dir, liebte dich mit meinem ganzen Herzen. Ohne, dass du es wusstest!

Plötzlich, ohne Vorwarnung, fielst du mir um den Hals, wie damals im Ritz, als du das Zimmer begutachtet hattest. Ich fühlte wieder deinen Atem an meinem Hals, deine Brust schmiegte sich wieder an meine und deine Arme umschlangen meinen Nacken. Sehnsüchtig schlang ich meine Arme um deinen Körper, drückte dich ganz fest an mich. Nein, ich ließ dich nicht gehen! Das konnte ich nicht, Lilly!

Nur leise drang das Pfeifen des Schaffners zu mir hindurch. Du allerdings hattest es gehört und lockertest deine Umarmung.

„Ich muss gehen!“, hauchtest du mir zu, deine Augen in meine gerichtet.

Und mit einem Mal sah ich alles nur noch in Zeitlupe. Ganz langsam näherte sich dein Gesicht dem meinen, ich stand erstarrt da, hielt dich immer noch im Arm. Zart und vorsichtig legten sich deine Lippen auf meine. Zitternd und unsicher erwiderte ich deinen scheuen Kuss. So zaghaft er auch war, ich wusste, dass dies mein einzig wahrer Kuss in meinem bisherigen Leben war. Noch nie hatte mein Herz so sehr geklopft, nie hatten meine Beine so gezittert und nie hatte ich solche Gefühle bei einem Kuss gespürt. Es war wie ein Feuerwerk im Inneren, wie ein Rausch. Lilly, ich vergesse unseren ersten Kuss niemals! Der in London zählte nicht. Ich hatte ihn vergessen...

So kurz dieser Kuss auch war, ich wollte mehr. Kaum hatte ich ihn realisiert, löstest du dich von mir, schnapptest deine Koffer, sprangst in den Zug und riefst mir zu: „Ich komme so schnell es geht zurück! Bis dann, mein Freund!“

Dann schloss sich die Tür, der Zug setzte sich in Bewegung. Ich blickte dir hinterher, wie du durch den Zug gingst, einen Fensterplatz fandest und dich dort niederließt. Du winktest mir zu, während der Zug immer schneller wurde. Ich rannte inzwischen neben deinem Fenster her, wollte so weit wie möglich mit dir gehen. Mit meiner Liebe zu dir hätte ich es noch viel weiter geschafft, doch das Ende des Bahnsteiges hinderte mich daran, bei dir zu bleiben. Voller Sehnsucht und Verlangen nach dir blieb ich stehen, meine Schultern hingen schlaff herunter, begannen zu zucken. Ich weinte...

Wie nur sollte ich die zwei Wochen überstehen? Ich konnte es mir nicht vorstellen. Mir kam es vor wie eine Ewigkeit. Zwei Wochen, vierzehn Tage, 336 Stunden, 20.160 Minuten, 1.209.600 Sekunden. Alles unendlich... Unmöglich zu überleben.

Ich habe keine Ahnung, wie ich den Bahnhof verlassen habe. Ich weiß nur, dass ich mir im Bahnhofskiosk eine Flasche „Eckes Likör“ kaufte, nach Hause fuhr und mich dort auf dem Sofa betrank. Die Flasche in der Hand lag ich rücklings auf dem Sofa, starrte an die Decke.

Lilly, ich habe dich schon vermisst, als du in den Zug gestiegen bist. Und jetzt lag ich alleine zu Hause, war zu betrunken, um mich überhaupt noch bewegen zu können. Was sollte aus mir werden? Ich konnte doch nicht zwei Wochen lang hier liegen bleiben!

Stöhnend drehte ich mich nach rechts, verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Boden. In meinem Kopf drehte sich alles. Ein pochender Schmerz dröhnte in ihm und machte mich fast verrückt. Wie durch einen Schleier nahm ich die Uhrzeit auf meiner Armbanduhr wahr: 14.45 Uhr.

Seit gut sechs Stunden warst du fort. Und ich musste mindestens fünf Stunden an die Decke starrend auf dem Sofa gelegen haben.

Die leere Likörflasche war mit mir vom Sofa gefallen und rollte nun langsam Richtung Telefon, wobei sich ein paar Tropfen des Getränks auf dem Fußboden ausbreiteten. In diesem Moment war ich froh darüber, Parkett zu besitzen. Matt folgte ich der Flasche mit meinen Augen. Leise klirrend stieß sie an dem Schränkchen an, auf dem mein Telefon lag. Wieso riefst du nicht an? Warst du noch unterwegs? Hattest du keine Zeit? Ich vermochte es nicht einmal zu denken, aber – war dir etwas zugestoßen?

Dieser Gedanke ernüchterte mich in Sekundenschnelle. Meine Gedanken überschlugen sich. Vor meinen Augen tauchte ein entgleister Zug auf, ein verunglücktes Taxi, ein Raubmord auf offener Straße. Angesichts dieser Hirngespinste überkam mich ein plötzlicher Brechreiz. Torkeln schaffte ich es auf die Beine. Musste mein Gleichgewicht finden, während ich gegen diesen Reiz ankämpfen musste. Mit unsicheren Schritten schaffte ich es noch rechtzeitig ins Bad...

Ich saß auf dem Boden im Bad, lehnte mich an der Badewanne an. Die Kühle der Fliesen dämmte mein Unwohlsein etwas ein. Es ging körperlich wieder langsam bergauf mit mir. Seelisch eher bergab...

Ich vergrub mein Gesicht in meinen angezogenen Knien. Innerhalb von wenigen Augenblicken war meine Hose an den Stellen völlig durchnässt. Wieder weinte ich, da du mir so fehltest. Man hatte mir mein Herz genommen, es Hunderte von Kilometern entfernt wieder rausgelassen. Ich verstand es einfach nicht. Wie viele Jahre sucht man nach einem Menschen, der einem so viel bedeutet, einen liebt? Und sobald man diesen Menschen gefunden hat, wird er einem entrissen. Und sei es auch nur für ein paar Wochen! Liebt man, ist die Zeit verdreht. Kurze Zeitabschnitte werden noch kleiner, lange Zeitspannen werden größer. Die Liebe ist eine eigenartige Eigenschaft der Menschheit. Wer hat sie erfunden? Sie soll doch schön sein, wundervolle Erinnerungen hinterlassen, die Erfüllung sein! Nur meistens kommt es anders. Man leidet unter einer nicht erwiderten Liebe. Man leidet unter einer Liebe, die so stark ist, dass man sich nicht traut, sie zu offenbaren. So ist es auch bei mir gewesen, Liebste.

Endlich schaffte ich es, meine Tränen zu besiegen. Ihr Strom versiegte und ich konnte wieder klar sehen. Nur das Denken fiel mir weiterhin schwer. Die Wirkung des Alkohols holte mich wieder ein. Mit schweren Gliedern stand ich vom Boden auf und ging langsam zurück ins Wohnzimmer, wo ich begann, das Telefon anzustarren. Auf dem Sofa liegend versuchte ich es mit Hypnose zum Klingeln zu bringen. Mein Blick verharrte auf dem Apparat. Klingel, Telefon, klingel! Du sollst klingeln! Klingel für mich! Klingel für die Liebe!

Ich bekam noch mehr Kopfschmerzen von dem Ganzen. Seufzend schloss ich meine Augen. Kaum hatte ich sie geschlossen, schlief ich ein.

Es war tief und traumlos, eine Quelle der Erholung. Nur im Schlaf konnte ich mein Verlangen nach dir ablegen. Im Schlaf schöpfte ich neue Kraft, um die nächsten Stunden zu überleben. Es sei denn, ich träumte von dir. Dann weinte ich im Schlaf, wimmerte vor mich hin, wachte schweißgebadet auf und rief deinen Namen. Anschließend lag ich noch lange wach, dachte an dich. Glaubte, dass du meine Liebe auch unendliche Kilometer entfernt spüren konntest. Lilly, du hattest mich in deiner Gewalt.

Hattest du auch das Gefühl, die Zeit schlich nur so dahin? Konntest du überhaupt an mich denken während deiner Arbeit? Ich jedenfalls tat nichts anderes mehr. Du warst in Gedanken bei mir. Doch was nützt die Liebe in Gedanken? Es ist genauso, als versuchte man in der Wüste zu schwimmen. Es war einfach sinnlos.

Ich erwachte nach drei Stunden aus meinem Schlaf. Sofort fiel mein Blick auf den Anrufbeantworter neben dem Telefon. Hattest du angerufen und ich hatte es nicht gehört? Blinkte das kleine Licht? Nein...

Ich sank zurück ins Sofa. Lilly... meine Lilly... Jetzt, jetzt wollte ich dir am liebsten alles sagen. Dir meine Gefühle gestehen. Wärst du jetzt hier...

Wärst du jetzt hier,

Würde ich dich fragen wie’s dir geht.

Wärst du jetzt hier,

Würde ich mich neben dich setzen.

Wärst du jetzt hier,

Würde ich meinen Kopf an deine Schulter schmiegen.

Wärst du jetzt hier,

Würde ich meine Arme um dich legen.

Wärst du jetzt hier,

Würde ich dir tief in die Augen schauen.

Wärst du jetzt hier,

Würde ich dir meine Liebe gestehen.

Wärst du jetzt hier,

Würde ich dich zärtlich küssen.

Wärst du jetzt hier,

Würde ich dich nicht mehr loslassen.

Ja, all das würde ich tun, wenn du nun hier bei mir sein würdest. Aber du warst nicht da. Du warst in Berlin. In einer großen Stadt. Mein kleines Mädchen allein in einer großen Stadt. Die große Stadt und mein kleines Mädchen. Wie auch immer ich es drehte, ich konnte es mir nicht vorstellen, dass du allein in Berlin warst, um deinen Job zu machen. Warum nahmen sie keine Polizisten aus Berlin? Warum mussten sie meine Lilly holen, die Hunderte Kilometer entfernt wohnte? Warum nahm man mir mein Mädchen, das nicht wusste, dass es mein Mädchen war?

Und ich verbrachte den Tag alleine, saß auf dem Sofa und starrte auf das schweigende Telefon. Hattest du mich vergessen? Und ich versprach dir, ohne dass du es wusstest:

Ich werde auf meine Liebe warten!

Sebastian

 

11. Brief

Liebste Lilly,

ein Leben ohne zu lieben ist unvorstellbar, aber eine Liebe nicht zu leben ist unmöglich. Verstehst du, was ich meine?

Ich habe es nie gewagt, dir diesen einen Satz zu sagen, der mir schon so lange auf der Seele lastete. Dieser Satz, der nur aus drei simplen, aber auch schweren Wörtern bestand.

Ich habe mich niemals getraut, dir es zu sagen. Und als du in Berlin warst, ich bei mir zu Hause, hatte ich den Mut, es dir zu sagen. Doch du warst nicht da! Und ich WOLLTE es dir JETZT sagen! Jetzt und sofort.

Ich packte meinen Koffer, schmiss alles achtlos hinein, vergaß die Hälfte, schnappte mir mein Portmonee und rief mir ein Taxi. Auf dem Weg zum Bahnhof dachte ich immer wieder: „Lilly, ich bin unterwegs! Hier und jetzt bin ich auf dem Weg zu dir, mein Engel!“

Der nächste Zug war nur ein Intercity. Ich beschloss, zunächst mit ihm zu fahren. Ich hatte so wieso nicht genug Geld bei mir, um den ganzen Weg von hier bis nach Berlin mit dem ICE zu fahren. Nach einer Stunde Fahrt erreichten wir wieder einen größeren Bahnhof. Ohne zu wissen, ob von hier überhaupt ein ICE Richtung Berlin fuhr, stieg ich aus. Ich, derjenige, der sich es niemals hatte getraut alleine mit dem Zug so weit zu fahren, jagte nun durch ganz Deutschland. Just for you, my darling!

Ich fand einen Fahrplan. Ein wenig gehetzt suchte ich nach einem ICE. Hatte allerdings kein Glück, die meisten fuhren nicht bis nach Berlin. Oder war Berlin einfach nur nicht verzeichnet? Um das herauszufinden, suchte ich den Informationsschalter auf. Ein unfreundlich wirkender Mann Mitte fünfzig gab mir Auskunft. Der nächste ICE, der direkt nach Berlin fuhr, käme erst in drei Stunden.

Warum erst in drei Stunden? Ich hatte bisher 24 Stunden ohne dich auskommen müssen und sollte nun noch drei weitere Stunden länger warten? Zudem kam ja noch die Fahrzeit! Lilly, ich nahm die schwere Prüfung auf mich und kaufte mir ein Ticket zweiter Klasse. Nun besaß ich gerade noch ein paar Euro.

Die Zeit schlug ich tot, indem ich mich darauf freute, meine Liebste Lilly schon in wenigen Stunden wieder in die Arme schließen zu können. Eine Frage drängte sich dabei plötzlich dazwischen. Eine Frage, die mir schwer auf dem Herzen lag: Warum hattest du dich nicht bei mir gemeldet? Warum, warum, warum, warum, warum?

„Warum?“, schrie ich laut in die Bahnhofsvorhalle hinein.

Einige Leute blickten mich an, voller Abneigung, Überraschtheit oder Mitgefühl. Woher sollten sie wissen, was in mir vorging. Die voller Abneigung dachten, ich sei ein armer Verrückter, der hier seine Zeit damit verbrachte, im Bahnhof zu rebellieren. Die voller Überraschtheit dachten, sie hätten sich verhört in dem gesamten Stimmengemurmel in der großen Halle. Und die voller Mitleid dachten, ich säße hier, trauerte um einen Menschen, den ich verloren hatte und mich nun fragte, warum.

In der Tat, ich hatte einen Menschen verloren und trauerte nun nach ihm. Aber meine Frage des Warum war eine andere. Immer noch die, weshalb du dich nicht bei mir gemeldet hattest.

Warum???

Drei Stunden saß ich regungslos, mit dem Koffer zwischen den Füßen stehend, auf einer Bank in der Bahnhofshalle. Die Gedanken schwirrten nur so in meinem Kopf herum.

Der ICE kam, ich suchte mir einen Platz am Fenster und lehnte meinen Kopf gegen das kühlende Glas. Oh Lilly, wärst du doch jetzt schon bei mir. Würdest du doch neben mir sitzen. Würdest du am Fenster verweilen, hinaussehen, dich von der Sonne bescheinen lassen, wie auf dem Weg nach London. Oh, wie unschuldig du da aussahst. Die Erinnerung an das Bild weckte einen Instinkt in mir, dass ich dich schützen müsste. Ich musste einen Engel schützen, schützen vor der rauen und bösen Welt, auf die er hinabgekommen war, um mir das Leben zu zeigen. Ein Leben, das ich nicht kannte. Ein Leben, dass meinem alten in keiner Weise mehr glich. Ein Leben, in dem der Engel die größte Rolle spielte. Ein Leben, in dem ich es nicht wagte, meine Gefühle zu offenbaren...

Vor dem Fenster zischte die Landschaft nur so vorbei. So schnell, dass man nichts erkennen konnte. Und doch ging es mir zu langsam. Konnten wir nicht schneller fahren? Ich musste doch meinen Engel in der großen Stadt beschützen!!!

Und immer wieder hielten wir. War es wichtig, dass andere Menschen ihre Wege fortsetzen konnten? Mussten wir unnötig Zeit für andere hergeben? Verlorene Zeit, die ich eigentlich bei dir verbringen wollte. Schließlich hatte man nicht ewig Zeit... Nicht wahr, Engel?

Wir passierten viele Bahnhöfe. Nach dem siebten hörte ich auf zu zählen. Die Landschaften wechselten sich vor dem Fenster ab. In den schemenhaften Umrissen erkannte ich Wiesen, Felder und Wälder, mal kleine Dörfer und große Städte. Deutschland war ein wandelbares Land, das erkannte ich auf dieser Fahrt. Und ich erkannte, dass nach grauen Städten wieder grüne Wiesen kamen. Wie im Leben. Nach schlechten Tagen kommen irgendwann auch wieder gute. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, verankert in unseren Leben.

Der Zug wurde langsamer. Eine Bandansage sagte mir, dass wir gleich den Bahnhof in Berlin Mitte erreichen würden. Ich nahm meinen Koffer aus dem Gepäcknetz, quetschte mich zwischen den engen Sitzreihen zur Tür und wartete darauf, dass wir endlich in den Bahnhof einliefen. Durch das Fenster in der Tür konnte ich einen kurzen Blick auf Berlin werfen, als wir in den Bahnhof einfuhren und hielten. Die Tür surrte lautlos auf, ich betrat zum ersten Mal in meinem Leben unsere Hauptstadt. Eine unbekannte Stadt eröffnete sich mir. Schon auf dem Bahnsteig lungerten die Drogenabhängigen Jugendlichen. Kein Zuhause, keine Arbeit, keine Zukunft. Mir taten sie leid. Lilly, hättest du sie gesehen, wie sie zitternd vor Hunger auf dem Steig saßen, hättest du sicherlich begannen zu weinen. Ich wusste, du hattest ein großes Herz – für jeden Menschen. Egal ob Mann, Frau, Kind, Alte, ob schwarz, ob weiß, ob Christ, ob Jude. Für dich waren alle Menschen gleich. Und diese Einstellung war auf mich übergesprungen wie ein Funke eines Feuers auf trockenes Stroh.

Ohne die geringste Ahnung wohin ich überhaupt ging, machte ich mich auf den Weg. Ich durchstreifte kleine Straßen, überquerte breite und vor allem vielbefahrene Straßen. Musste aufpassen, dass ich nicht unter die Fahrräder kam. Solch ein Gewusel im Straßenverkehr war ich nicht gewöhnt. Und ich stürzte mich in diesen Dschungel, nur um dich zu sehen.

Die Sonne stand schon tief am Himmel, als ich das Brandenburger Tor erreichte. Mir war der Arm vom Koffertragen schwer geworden. In der Nähe des Berliner Wahrzeichens setzte ich mich auf eine Bank – und bereute meinen Entschluss, hier her zu kommen. Ich sehnte mich zwar so sehr nach dir, wollte unbedingt bei dir sein, aber ich hatte mir keine Gedanken darüber gemacht, wie ich dich in dieser großen Stadt finden sollte. Ich kannte weder dein Hotel, noch jemanden, den ich danach fragen konnte. Eine gewaltige Angst breitete sich in mir aus. Was sollte ich jetzt tun? Ich hatte kein Geld mehr, mein Konto war auch so gut wie leer, da ich immer noch keinen Job gefunden hatte. Wo sollte ich bleiben? Auf der Straße? Mir fielen die Kids vom Bahnhof ein. Wenn die es schafften, warum nicht auch ich?

Ich seufzte und stützte meinen Kopf in die Hände. Liebe macht blind, das wusste ich nun selber. Ich bin gefahren, einfach so. Liebe macht blind und schaltet sämtliches Denken aus. Aus! Ende! Ich war verurteilt, auf der Straße zu bleiben. Es gab kein Zurück, ich saß in der großen Stadt fest.

Lilly, wo warst du nur? Ich wollte bei dir sein und hockte nun auf einer Bank mitten in Berlin! Tränen füllten meine Augen. Schon fiel die erste auf mein Knie. Eine zweite folgte, eine dritte und ich weinte lautlos vor mich hin. Langsam ging die Sonne unter, tauchte alles in ihr sanftes rot.

Ich fand mich mit dem Gedanken ab, allein und gestrandet zu sein, als ich plötzlich Schritte hörte. Mir war es egal, mir konnte niemand helfen! Ich ließ meine Augen geschlossen, weinte weiter. Die Schritte kamen direkt auf mich zu. Sicherlich ein Passant. Doch auf einmal verlangsamten sich die Schritte, stockten.

Lilly, schoss es mir in den Kopf, Lilly, komm zu mir! Komm zu mir her!

Und dann...

„Sebastian?“

Ich blickte überrascht auf. Ein Schatten fiel auf mich. Ich erkannte nur Umrisse eines zierlichen Menschen, der vor mir stand und die untergehende Sonne abschirmte. Zudem nahm mir meine Panik und meine Tränen den klaren Blick.

„Sebastian?“

Ich kannte diese Stimme. So vertraut und so – ENGELSGLEICH???

Noch einmal ertönte diese sanfte Stimme vor mir, diesmal nicht fragend sondern fordernd: „Sebastian!!!“

Ich konnte es nicht glauben! Ich sprang von der Bank auf, erkannte so das Gesicht meines Engels: Deines! Du hattest mich gefunden, obwohl ich hatte dich finden wollen! Du hattest mich in der fremden, großen Stadt gefunden!

„Lilly!“, rief ich erfreut unter Tränen. „Lilly!“

Ich konnte mich nicht mehr auf den Beinen halten, war immerhin schon den gesamten Tag unterwegs. Kraftlos fiel ich zurück auf die Bank. Meine Beine gehorchten mir nicht mehr. Während ich versuchte, neue Kraft zu sammeln, setztest du dich neben mich. Gemeinsam blickten wir in die untergehende Sonne.

In meinem Leben ging dagegen gerade wieder die Sonne auf. Wir waren wieder vereint. Du saßt neben mir, lehntest deinen Kopf gegen meine Schulter. Und wieder schrie mein Herz nach dir. Es erinnerte mich daran, dass ich dir eigentlich was hatte sagen wollen. Und obwohl mein Herz so sehr schrie, brachte ich es nicht über die Lippen. Ehrlich gesagt, Lilly, hasste ich mich in diesem Moment. Warum konnte ich nicht den Mund auf machen und einfach sagen, was ich für dich empfand? Warum war ich ein solcher Hasenfuß? Mut, Angst, Mut, Angst... Wieder erkannte ich, dass es nie ohne Gegensätze funktionierte.

„Warum bist du mir gefolgt?“, fragtest du mich plötzlich, so dass ich aus meinen Gedanken aufschreckte.

Es wäre die Chance gewesen, dir alles zu sagen. Der passende Moment. Du hättest es jetzt vielleicht verstanden.

„Ich...“, begann ich, „Ich konnte – ich wollte...“

Ja, was wollte ich? Dieses Hin und Her weiter leben, oder dir alles sagen? Was wollte ich?

„Ich... ich... ich wollte dir nur sagen, dass...“

Die ganze Zeit schautest du mir ins Gesicht, als lauertest du auf meine Antwort. Deine Augen flehten mich an, endlich etwas zu sagen, dass konnte ich spüren.

„Ich wollte nur sagen, dass du meine beste Freundin bist!“

Nein! Nein! Nein! Nein! Nein! Nein! Nein!

Ich biss mir schmerzhaft auf die Zunge, schmeckte schnell Blut. Und du? Was hast du gemacht? Du hast dich an mich geschmiegt und gesagt: „Und dafür kommst du nach Berlin? Nur um mir zu sagen, dass ich deine beste Freundin bin?“

Nein, dafür nicht! Dafür nicht, mein Engel!!!

Ich schwieg, genoss es, wie du dich an mich drücktest. Zum zweiten Mal im Leben wollte ich jetzt mehr! Mehr als vorsichtige Berührungen, mehr als nur nette Worte. Ich wollte –

„Willst du mit in mein Hotel?“, unterbrachst du mich beim Denken.

Hotel? In dein Hotel? In dieser Sekunde wäre ich überall mit dir hingegangen. Ich hätte dir sogar geglaubt, dass man über das Wasser gehen könnte. Ich hätte dir geglaubt, die Erde sei eine Scheibe. Ich hätte dir geglaubt... Ach Lilly, ich hätte dir alles geglaubt, hätte es noch so unwirklich geklungen!

Ich tat so, als überlegte ich. Dabei wollte ich nur sehen, ob dir wirklich etwas an dem Angebot lag. Und so wie es schien, tat es das. Wieder flehten mich deine Augen an, dass es mir ganz warm in der Seele wurde.

„Ja, das will ich, Lilly!“, antwortete ich langsam und sah dich an.

Du schenktest mir dein verführerischtest Lächeln, nahmst meine Hand, zogst mich von der Bank und so gingen wir Hand in Hand durch das Brandenburger Tor, bis zu deinem Hotel. Du hattest mir meinen Koffer abgenommen, indem sich eigentlich nichts befand, was ich hätte gebrauchen können. In dem Durcheinander heute Morgen hatte ich nur ein paar Zeitschriften, einen Pullover, eine Hose, etwas Unterwäsche und einen alten Atlas eingepackt. Als diese Sachen auf deinem Bett ausgebreitet lagen, musstest du herzhaft lachen. Du konntest nicht verstehen, weshalb ich solche unnützen Dinge eingepackt hatte. Dabei lag es klar auf der Hand: Ich wollte so schnell wie möglich bei dir sein. Wollte keine Zeit mehr verschenken und musste daher meinen Koffer innerhalb weniger Augenblicke packen. Zudem mein nicht ganz klarer Gedankengang. Denn ich konnte nur denken: „Lilly, ich muss zu dir!“

Und jetzt stand ich neben dir am Bett, in einem kleinen Hotel in Berlin. Es war nicht so luxuriös wie das in London, eher klein und heruntergekommen. Am liebsten hätte ich dich in ein Hotel gesteckt, das dir zu Ehren gerade reichte. Einen Engel in einem solchen Kellerloch unterzubringen zählte von nun an zu den Todsünden. Die Tapeten lösten sich an einigen Stellen von den Wänden, in den Ecken waren Spinnenweben, die Gardinen strahlten nur so vor Staub und es roch überall leicht modrig. Ich mag gar nicht daran denken, wie du es geschafft hattest, in diesem Bett zu nächtigen. Eine durchgelegene Matratze, eine steife Decke und ein Kopfkissen, dass eher ein dünnes Handtuch war.

Ich wollte nicht, dass mein Engel so leben musste. Für einen Engel, für meinen Engel, war das Beste gerade gut genug. Mein Engel sollte das Leben genießen können, die kurze Zeit auf Erden genießen...

Mein Blick hatte sich auf das Bett gerichtet. Es war ja nicht nur so, dass es eine Stätte für Milben war, sondern auch nur ein Einzelbett. Sollten wir etwa...?

„Ich kann auch auf dem Boden schlafen!“, schlug ich dir vor.

Du schütteltest den Kopf, dass deine Haare nur so umherflogen. Lachend legtest du deine Hände auf meine Schultern, stelltest dich vor mich und meintest: „Auf keinen Fall! Du kommst nach Berlin und schläfst auf dem Boden? Nein, das kann ich nicht übers Herz bringen!“

Übers Herz bringen. Wieder war es da. Wieder fiel mir ein, weshalb ich den langen Weg nach Berlin auf mich genommen hatte: Dir alles zu gestehen!

Mein Mund wurde ganz trocken. Ich musste es dir sagen! Ich musste einfach! Noch einmal tief durchatmen, und –

Ein gewaltiger Hustenanfall schüttelte mich plötzlich durch. Lag es an der schlechten Luft in diesem Zimmer? An meiner Aufregung, da ich es meinem Engel endlich gestehen wollte, wie sehr ich ihn liebte, ihn verehrte, mich nach ihm sehnte?

Der Husten wurde immer schlimmer. Ich bekam kaum noch Luft, knickte mit den Knien ein und hockte auf dem Boden, während ich röchelnd hustete. Du erschrakst sehr darüber, knietest dich neben mich. Dein Arm strich mir beruhigend über den Rücken.

Ein Schrei in meinem Inneren ließ mich verstummen. Ich saß am Boden, du neben mir. In meiner Brust schnürte sich etwas heftig zusammen. Es tat richtig weh. So einen Schmerz hatte ich noch nie verspürt. Ich klopfte gegen meine Brust, in der Hoffnung der Schmerz würde versiegen. Doch nichts geschah. Außer dass du mich mit bleichem Gesicht angesehen hast.

Es tat mir so leid, dass du dich so sehr um mich sorgtest. Ich konnte dich nicht leiden sehen und musste es nun doch. Die Angst in deinen Augen, deine Sorgenfalten auf der Stirn. Und als du mich so ansahst, erkannte ich, dass es kein körperlicher Schmerz in meiner Brust war, sondern ein seelischer. Meine Gefühle überschwammen mein Herz, gaben ihm Stärke, Kraft und Mut, meinen Verstand nach so langer Zeit endlich zu besiegen.

Ich holte tief Luft, blickte dir in die angsterfüllten Augen und flüsterte: „Lilly, ich muss dir etwas sagen!“

Du schautest mir tief und stumm ins Gesicht.

Wusstest du, was ich dir sagen wollte?

Engel, du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich unter den ständigen Kämpfen zwischen meinem Herzen und meinem Verstand gelitten habe. Und immer gewann mein Verstand. Mein Herz verlor langsam die Hoffnung, jemals die Oberhand zu erlangen. Aber jetzt, hier, nach so langer Zeit...

„Lilly,“, flüsterte ich zärtlich und nahm deine Hand, „Lilly, ich... ich...“

Ohne, dass wir es merken, standen wir auf. Wir versanken in unseren Blicken. Mein Herz jagte so schnell. Ich spürte es in meinen Ohren schlagen. Meine Beine begannen zu zittern. Und dann schütteltest du den Kopf, hast mir über das Gesicht gestrichen. Deine Berührungen waren schon immer zärtlich gewesen, aber diese war es besonders.

Ein heißer Schauer durchzog meinen gesamten Körper. Und dann geschah etwas, von dem ich schon so lange geträumt, mir gewünscht, wonach ich mich gesehnt hatte. Du legtest deine Arme um meinen Nacken, zogst meinen Kopf zu dir heran und küsstest mich. Ich konnte es nicht glauben!

Voller Sehnsucht legte ich meine Arme um deinen schutzlosen, zierlichen Körper, erwiderte deinen Kuss so leidenschaftlich, wie du ihn mir schenktest. Ich fühlte, diesmal war der Kuss echt. Damals in London warst du vom Alkohol gesteuert worden. Aber jetzt? Jetzt von deinen wahren Gefühlen!

Du hast mir gezeigt, wie es ist zu lieben. So viele einsame Nächte, in denen ich stumm in die Kissen weinte, voller Sehnsucht nach dir einschlief, von dir träumte, wieder erwachte, deinen Namen rief und nur schwer wieder einschlief – all das sollte nun vorbei sein. Mein Herz müsste niemals mehr kämpfen. So viele Kämpfe, die aussichtslos erschienen, trugen nun doch die Früchte der Liebe. Mein Weg bis zu diesem Moment war geprägt von Trauer, Glück, Angst, Liebe. Niemals dachte ich, dass ich es so weit schaffte. Niemals hatte ich daran geglaubt, dir jemals meine Gefühle zu gestehen. Und jetzt standen wir in diesem ungemütlichen Zimmer in Berlin, küssten uns leidenschaftlich ohne jegliche Tabus, wussten, dass wir füreinander geschaffen waren.

Du begannst leise zu stöhnen. Deine Hände glitten über meinen gesamten Körper. Ich tat es dir gleich. Ich konnte es nicht mehr zurückhalten. Ich wusste, dass du wusstest, dass du es auch wolltest!

Ich drängte dich zum Bett. Auf dem Weg dorthin zogst du mir mein Hemd aus, küsstest meine Brust. Ich streifte deinen dünnen Pullover über deinen Kopf. Du ließt dich rücklings auf das Bett fallen und zogst mich hinterher. Irgendwie schafftest du es, mir meine Hose auszuziehen, während ich deine Schulter küsste. Und ohne, dass ich es begriff, lagen wir nackt auf dem Bett, hielten kurz inne. Du sahst mir tief in die Augen und sagtest: „Du glaubst nicht, wie sehr ich darauf gewartet habe!“

Lilly, du öffnetest mir sämtliche Türen in dieser Nacht! Ich entdeckte Welten, die mir bisher verschlossen waren. Du zeigtest mir die wahre Liebe, die keine Kompromisse forderte.

Als ich nachts erwachte, hattest du dich mit dem Rücken an meine Brust gekuschelt. Ich würde von einem Glücksgefühl erfüllt und küsste vorsichtig deine Stirn.

Danke für diese Nacht, meine Liebste!

Sebastian

 
 
   
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